Die Bibel, die Jesus las | Faszination Bibel

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Die Bibel, die Jesus las. Christen und das Alte Testament

(oder: Jesus und seine jüdische Bibel. Warum das Alte Testament für Christen so wertvoll ist)

Wie sah eigentlich die Bibel aus, die Jesus las? So ganz genau wissen wir das natürlich nicht, aber eins wissen wir sicher: Sie enthielt kein Neues Testament. Das mag für manchen eine Selbstverständlichkeit sein, aber für manch anderen ist der Gedanke vielleicht auch ungewohnt, dass die Bibel der ersten Christen nicht dieselbe war wie die, die wir heute lesen. Denn schließlich sind viele von uns mit der festen Überzeugung groß geworden, dass das „Neue Testament“ der eigentliche Hauptteil der Bibel ist. Bei Jesus aber war das anders.

Blickt man in die Geschichte der Kirche, dann war das Verhältnis der Christen zum Alten Testament schon früh nicht unproblematisch. Zwar wurde es von Jesus und den ersten Christen ganz selbstverständlich als „Heilige Schrift“ verwendet, aber schon in der Mitte des zweiten Jahrhunderts gab es einen radikalen Vorschlag, dies zu ändern: Der reiche Unternehmer Markion, Gründer und Leiter einer aufstrebenden innovativen Hauptstadtgemeinde in Rom, sprach sich dafür aus, das Alte Testament für Christen ganz abzuschaffen, und auch aus dem Neuen Testament alle Verweise auf das Alte zu streichen. Für ihn, wie für viele Menschen heute auch, war im Alten Testament ein „anderer Gott“ am Werk, ein Gott der Rache und des Krieges, ein unbarmherziger und kleinlicher Gott, der so ganz anders gewesen sei als der Vater im Himmel, von dem Jesus redete. Damals traten ihm alle anderen Leiter der jungen Christenheit beherzt entgegen und bestanden darauf, das Alte Testament auch weiterhin als Heilige Schrift zu verwenden.

Umstrittenes Altes Testament

Ganz unumstritten blieb aber das Alte Testament auch danach nicht. Immer wieder gab es Forderungen von Christen, es aus der christlichen Bibel zu streichen. Noch im Jahr 1921 erklärte der evangelische Theologe Adolf von Harnack, bis heute als einer der größten Gelehrten seiner Zeit anerkannt, es sei ein Fehler und Zeichen einer „kirchlichen Lähmung“, das Alte Testament heute noch als Teil der Bibel beizubehalten. Solche Vorschläge wurden natürlich auch in der Zeit des Nationalsozialismus dankbar aufgenommen. So wurde im Jahr 1939 von der Deutschen Evangelischen Kirche ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben“ eingerichtet, dessen Aufgabe unter anderem darin bestand, ein „Volkstestament“ herauszugeben, das den alten Traum Markions endlich verwirklichen würde. Dieses erschien im Jahr 1941.

Hartnäckige Klischees

Man mag solche Entwicklungen aus heutiger Sicht für absurde und dunkle Schatten der Vergangenheit ansehen. Ganz ohne Nachwirkungen in unserer Zeit sind sie aber nicht. Hartnäckig hält sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit, und auch vieler Christen, der Eindruck, dass das Alte Testament etwas dunkles, bedrohliches, und unchristliches an sich hat, und daher für Christen nur noch bedingt gültig ist. Der Theologe Rudolf Bultmann etwa bezeichnete das Alte Testament noch 1952 als eine „Geschichte des Scheiterns“. Und als im Mai 2011 im  „Spiegel“ ein Kommentar des katholischen Journalisten Matthias Mattusek zur Tötung des Terroristen Osama bin Laden erschien, diente das Alte Testament darin gleich mehrfach als willkommenes Beispiel für eine archaische, gewalttätige und gnadenlose Weltsicht. Alan Posener, Sohn eines jüdischen Vaters, konterte in der „Welt“ vom 11. Mai: „Es ist ein Pawlowscher Reflex. Man denkt bei Mord sofort Jude. Matussek schafft es, auf zwei Seiten mindestens elf Mal das ‚alte‘ Testament, das heilige Buch des Judentums, ins Spiel zu bringen – jedes Mal negativ.“ Und in der Tat: Da wird Osama bin Laden mit dem alttestamentlichen Propheten Mose verglichen, der vom Berg Sinai hinuntersteigt, er wird als „alttestamentlicher Fluch“ und als „Gegen-Jesus“ bezeichnet. Aber auch die amerikanischen Rachegelüste gegen den Erzterroristen hätten „alttestamentliche Wucht“, und das Weiße Haus habe sich mit seiner Entscheidung an die alttestamentliche Regel „Auge um Auge“ gehalten. Der Jubel mancher Amerikaner über den Tod bin Ladens schließlich sei mit dem Jubel der Psalmen beim Sieg über die Feinde Gottes vergleichbar.

„Es ist ein Pawlowscher Reflex. Man denkt bei Mord sofort Jude. Matussek schafft es, auf zwei Seiten mindestens elf Mal das ‚alte‘ Testament, das heilige Buch des Judentums, ins Spiel zu bringen – jedes Mal negativ.“ Und in der Tat: Da wird Bin Laden mit Mose verglichen, er wird als „alttestamentlicher Fluch“ und als „Gegen-Jesus“ bezeichnet. Aber auch der amerikanische Rachedurst hätte „alttestamentliche Wucht“, man habe sich an die alttestamentliche Regel „Auge um Auge“ gehalten, und der Jubel über den Tod bin Ladens schließlich sei mit dem Jubel der Psalmen beim Sieg über die Feinde Gottes vergleichbar.

Ein Schalter im Kopf?

Sind solche Worte aus der Feder eines katholischen Christen ein ungewöhnlicher Ausrutscher? Ich glaube nicht. Zu oft habe ich selbst bei frommen Predigern und Bibellesern ganz ähnliche Vorstellungen vom Alten Testament gefunden, wenn auch meistens unbewusst und ohne böse Hintergedanken. Es ist so, als hätten viele Christen einen unsichtbaren Schalter in ihrem Kopf: Wenn sie in Bibelstunde oder Hauskreis Geschichten aus dem Alten Testament oder Worte der Propheten lesen, dann sehen sie darin beeindruckende Beispiele von Glaubensmut, Gottvertrauen, Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Das Gesetz vom Sinai ist ein Wunder der Befreiung und eine gute Gabe Gottes für sein Volk. Das Königtum ist ein Erweis der Treue Gottes zu seinem auserwählten Volk. Der Tempel ist ein heiliger Ort des Gebets und der Gottesbegegnung. Die Wegführung der Gefangenen unter Nebukadnezar ist ein tragisches Schicksal des jüdischen Volkes, wobei Gott aber trotzdem treu zu Daniel hält, weil der sich auch in einer heidnischen Umgebung streng an Gottes Gebote hält.

Lesen wir jedoch einen Text aus dem Neuen Testament, dann wandeln sich für viele Christen alle diese Geschichten aus dem Alten Testament plötzlich in ihr Gegenteil: Das Gesetz vom Sinai ist plötzlich ein Gefängnis, das die Menschen einengt. Das Königtum Davids wird zum politisch missverstandenen Gegenbild eines geistlichen Königtums, wie Jesus es brachte. Der Tempel wird zum Symbol einer verdinglichten Religiosität. Die Wegführung der Gefangenen wird zu einer verdienten Strafe für ein ungehorsames Volk. Und die strenge Abgrenzung der Juden gegen ihre heidnische Umwelt wird als Wurzelsünde eines exklusiven jüdischen Nationalstolzes verurteilt.

Hat Gott sich verändert?

Manchmal scheint es sogar so, als hätte Gott selbst sein Wesen auf dem Weg vom Alten Testament ins Neue gewandelt. So höre ich immer wieder die Überzeugung, dass das Heil im Alten Testament nur für Israel offenstand, und erst im Neuen Testament auch für alle anderen Völker. Hat Gott es sich also unterdessen anders überlegt? Oder ist es so, dass die Schreiber des Alten Testaments einem Irrtum aufgesessen sind? Beides wäre, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, eigentlich nicht denkbar. Die Wirklichkeit sieht aber vielleicht anders aus: Gott ging es von Anfang an darum, durch sein Volk Israel allen Völkern Segen zu bringen. Das steht schon so im Alten Testament, und es ändert sich nicht im Neuen. Ein anderes Beispiel: Wie selbstverständlich sagen wir, dass erst seit dem Tod Jesu der Weg zu Gott frei ist. Man fragt sich allerdings: Gab es zur Zeit des Alten Testaments wirklich keinen Weg zu Gott? Was ist dann mit Abraham, Isaak und Jakob, den Vorbildern einer gelungenen Gottesbeziehung? Mit David, mit Hiob und mit den Menschen von Ninive? Kann es sein, dass auch ihnen schon der Weg zu Gott offen stand? Immerhin hatte Gott schon damals versprochen, sich mit seinem Volk zu versöhnen – und zwar Jahr für Jahr am großen Versöhnungstag (3. Mose 16).

Verschiedene Brillen

Manche Bibelausleger schlagen vor, dass wir das Alte Testament „durch die Brille des Neuen“  lesen. Aber hier ist Vorsicht angebracht: Denn was wir für die „Brille des Neuen Testaments“ halten, kann sehr leicht auch die Brille unseres Zeitgeistes oder eines missverstandenen Neuen Testaments sein. Verschiedene solche Brillen sind im Laufe der Zeit vorgeschlagen worden. Etwa die oben beschriebene „Brille des Gegensatzes“, die im Alten Testament vor allem die Negativbeispiele sucht, von denen sich das Neue Testament absetzt. Oder die „Brille der Erfüllung“, die im Alten Testament lediglich nach Vorhersagen sucht, die im Neuen in Erfüllung gehen. Die „Brille der Symbolik“ sieht im Alten Testament eine Art Bildergeschichte, die geistliche Wahrheiten des Neuen Testaments verdeutlichen soll, aber selbst bitte nicht beim Wort genommen werden will. Die „Brille des Gesetzes“ sieht im Alten Testament einen alten Gesetzestext, der seine Gültigkeit verloren hat, weil er durch einen Neueren ersetzt wurde.  Die „Brille der Auslese“ sucht sich aus dem Alten Testament die Stücke heraus, die ihr noch gültig oder wertvoll erscheinen, und wirft den Rest getrost auf den Müll. Die bereits genannte „Brille des Scheiterns“ sieht im Alten Testament einen ersten Versuch Gottes, die Welt zu retten, der aber leider nicht funktionierte, weil das Volk Israel ungehorsam war. Im Neuen Testament gibt es daher einen zweiten, nun endlich erfolgreichen, Versuch. Die „Jesus-Brille“ schließlich vermutet hinter jedem Felsen und Busch des Alten Testaments einen verschlüsselten Hinweis auf Jesus. Man meint dafür ein Vorbild im Neuen Testament zu finden (z.B. 1. Korinther 10,4). Aber die Ausleger des Neuen Testamentes haben solche Deutungen immer nur als zusätzliche, geistliche Auslegungen eines biblischen Textes verstanden, nicht als Entschlüsselung eines „eigentlichen“, versteckten Textsinnes.

Ausleger des Alten Testaments raten daher dazu, das Alte Testament zunächst einmal ganz ohne solche „Brillen“ zu lesen. Es ernst zu nehmen, so wie es ist. Danach zu fragen, wie es die Menschen des Alten Testaments wohl verstanden haben. Und schon darin ein gültiges Reden Gottes zu sehen. Ich finde das einen weisen Vorschlag und würde ebenfalls jedem dazu raten.

Zwei hilfreiche Brillen

Wenn man aber dann gerne eine Brille aufsetzen möchte, schlage ich zur Abwechslung mal zwei andere Brillen vor: Als Leser des Neuen Testaments zum Beispiel kann es hilfreich sein, das Alte Testament mit der Brille des Judentums zu lesen. Denn das war die Brille, die Petrus, Paulus, Johannes, und alle anderen Autoren des Neuen Testaments aufhatten, wenn sie ihre Bibel lasen. Diese Brille fragt also nicht danach, was ein Text des Alten Testaments zu der Zeit bedeutete, als er geschrieben wurde. Sondern danach, wie ihn jüdische Leser zur Zeit von Jesus verstanden und deuteten. Und das kann durchaus einmal ein großer Unterschied sein. Für unser Verständnis des Neuen Testaments ist aber gerade diese Brille sehr wichtig. Wir finden solche jüdischen Bibelauslegungen in den Texten aus Qumran, in den Werken der jüdischen Schriftsteller Josephus und Philo, und auch in den Auslegungen der frühen Rabbinen. Weil diese Texte aber nicht immer leicht zu verstehen sind, gibt es auch moderne Zusammenfassungen (siehe den Lesetipp am Rand). Diese „jüdische Brille“ auf das Alte Testament muss nicht immer die „richtigere“ sein. Aber sie kann für uns sehr lehrreich sein, um zu verstehen, wie die Zeitgenossen Jesu ihre Bibel lasen und mit welchen Ohren seine Hörer ihn verstanden, wenn er die Bibel auslegte.

Als zweites schlage ich vor, „das Neue Testament durch die Brille des Alten“ zu lesen. Für diese Brille bildet das Alte Testament nicht den Gegensatz, sondern den „Hauptteil“ des Neuen. Was im Alten Testament steht, wird im Neuen – oft ungesagt – als selbstverständlich vorausgesetzt. Man muss es sozusagen „mitlesen“, um den Sinn des Neuen wirklich zu verstehen. Diese Brille sucht nicht nach dem Gegensatz, treibt nicht Auslese, fragt nicht nach einem geheimen Hintersinn des Alten Testaments. Sondern sie versteht das Neue Testament als Fortsetzung der einen, großen Geschichte Gottes, die am Anfang der Bibel begann und ohne Unterbrechung oder Kursänderung fortgeschrieben wird bis in unsere Zeit hinein.

Das ganze Haus bewohnen

David Stern, ein führender Theologe der messianisch-jüdischen Bewegung, hat vor kurzem bei einem Besuch in Deutschland ein altes, aber treffendes Bild verwendet. Er verglich die christliche Bibel mit einem zweistöckigen Haus. Das Alte Testament bildet darin das Erdgeschoss, das Neue Testament den ersten Stock. Ohne den ersten Stock bliebe das Haus aus Perspektive des Bauherrn unfertig und nach oben offen. Ohne das Erdgeschoss aber würde der erste Stock in der Luft hängen – oder ganz in sich zusammenfallen. Als Christen sollten wir daher im Erdgeschoss ebenso zu Hause sein wie im ersten Stock. Ja, wir gelangen sogar immer nur durch das Erdgeschoss in den ersten Stock hinein. Und wir müssen es dafür nicht erst umräumen oder umbauen, sondern es so schätzen lernen, wie es ist. Ohne Abstriche und ohne Neuanstrich. Denn das Alte Testament, so wie es ist, ist die Bibel, die Jesus las. Und eine andere hatte er nicht.

 

Lesetipp:

Mit jüdischen Augen gelesen

Eine Zusammenstellung von jüdischen Auslegungen zu wichtigen Texten des Alten Testaments bietet die mehrbändige Reihe „Bibelauslegung aus jüdischen Quellen“, die von Roland Gradwohl im Calwer Verlag (Stuttgart) herausgegeben wurde. Die hier zusammengetragenen jüdischen Auslegungen stammen zwar nicht nur aus der Zeit Jesu, und sie sind auch nicht unbedingt „richtiger“ als christliche Auslegungen, nur weil sie jüdisch sind. Sie bieten aber einen hilfreichen Einstieg in eine „andere“ Sicht der Bibelltexte – und manchmal vielleicht auch eine, die zur Zeit des Juden Jesus verbreitet war.


Quelle: Christen und das Alte Testament – Faszination Bibel 4/2011, S. 24-26 (10 MB)

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