‚Er redete mit Vollmacht‘: Autorität, Vollmacht und Freiheit im Neuen Testament

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Das Wort „Autorität“ sucht man in fast allen deutschen Bibelübersetzungen vergeblich. Da, wo in den meisten englischsprachigen Bibeln der Begriff authority steht (griechisch exousia), findet man im Deutschen eine ganze Reihe verschiedener Worte. Vor allem aber den Begriff der Vollmacht. Von Jesus wird mehrmals gesagt, dass er „lehrte wie einer, der Vollmacht hat“ (Mt 7,29), dass er „Vollmacht hat, Sünden zu vergeben“ (Mt 9,6) oder „Vollmacht, böse Geister auszutreiben“ (Luk 4,36). Was ist damit gemeint? Und was hat Vollmacht mit dem Thema unseres Jahrbuches, Autorität, zu tun?

Der Begriff der „Vollmacht“ ist in der deutschen Theologie und Kirchenlandschaft selten geworden. Das mag mit der generellen Skepsis zusammenhängen, mit der man seit 1945 und 1968 jedem Anspruch menschlicher Autorität begegnet, und mit einem aufgrund dieser Skepsis deutlich veränderten Pfarrer-, Prediger und Leiterbild. Vollmächtige Prediger und Predigerinnen sind heute weniger gefragt als kluge, authentische, wortgewandte, strategische oder inspirierende. Es gibt auch wenige Bücher, die sich mit der Frage nach der Vollmacht im geistlichen Dienst beschäftigen.

Vollmächtig, liberal, evangelikal

Eines dieser seltenen Bücher stammt aus der Feder von Prof. Axel Denecke, meinem theologischen Lehrer in Homiletik (Predigtlehre) an der Uni Marburg. Ich habe ihn in der Zeit meines Studiums als eine sehr beeindruckende, engagierte und prägende Persönlichkeit erlebt. In seinem 2009 erschienenen Buch „Vollmächtig und liberal! Predigen in der Tradition des Juden Jesus“ beklagt er lautstark das Fehlen von Vollmacht in den deutschen Kirchen. Nachdem er selbst sich fast 40 Jahre lang als Pfarrer und als Professor mit eigenen und fremden Predigten beschäftigt hatte, nahm er sich nach seiner Pensionierung ein Jahr lang Zeit für einen Selbstversuch: In der Umgebung seiner Heimatstadt besuchte er an über 50 unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichster Prägung Gottesdienste und hörte sich Predigten an. Eine Momentaufnahme deutscher Predigtkultur also. Seine Erfahrungen und Schlussfolgerungen schrieb er dann in diesem Buch nieder, dass er selbst als „den Ertrag einer lebenslangen Arbeit in homiletischer Theoriebildung und Predigtpraxis“ (1) bezeichnet. Seine wichtigste Beobachtung dabei: Es fehlt weithin an Vollmacht. Dabei macht ihm, der sich selbst ganz bewusst als „liberal“ bezeichnet und ja auch sein Buch entsprechend betitelt, eine Beobachtung besonders Mühe:

„Zum Schluss muss ich jedoch meine wichtigste Wahrnehmung nennen, die mich nicht nur nachdenklich macht, sondern die für mich recht schmerzlich ist und mich zunächst ratlos werden lässt. Ich muss gestehen, es fällt mir nicht leicht, sie zu beschreiben. Die engagiertesten Predigten und die am besten besuchten Gottesdienste habe ich bei Pastoren erlebt, die eher dem ‚evangelikalen und charismatischen Lager‘ unserer Kirche und Theologie zuzurechnen sind. Ich muss das einfach so konstatieren, obwohl und gerade weil es meiner eigenen theologischen und kirchlichen Prägung und Präferenz nicht entspricht. Liegt es daran, dass diese Prediger von ihrer Sache, also dem, was sie zu sagen haben und was sie und ihre Gemeinde ‚unbedingt angeht‘, stärker überzeugt sind als andere? Auch wenn der Stil der manchmal recht aufdringlichen Bekenntnissprache mir nicht entspricht, mir zu laut, zu selbstsicher, zu wohlfeil, manchmal auch zu selbstverliebt, in allem zu fertig und endgültig erscheint, so kommt das doch zweifellos ‚an‘, es erreicht die Gemeinde, und der Funke scheint überzuspringen. Diese Prediger waren einfach erfüllt von der Sache der Botschaft, die sie der Gemeinde mitzuteilen hatten, meinten, unbedingt mitteilen zu müssen. Ich habe das zu respektieren und mehr noch, auch zu achten.

Ich wünschte, dass auch auf der liberal-volkskirchlichen Seite der Prediger/innen solches Engagement, solches Selbstbewusstsein, solch vollmächtige Predigt zu finden wären. Doch das war leider nicht der Fall, vielleicht mit einer Ausnahme. Woran liegt das? […] Wollen sie nicht, sind sie zu fein dazu? Können sie nicht, weil sie sich nichts zutrauen, gar den Glauben an sich und das ‚vollmächtige Wort Gottes‘ verloren haben? Dürfen sie nicht, weil ihre Theologie es verbietet? Dies ist die größte Enttäuschung all meiner brav-sonntäglich durchgestandenen Besuche: die belanglose, ja langweilende Predigt des durchschnittlich liberal-wohltemperierten Predigers (männlich und weiblich!). Für mich zeigt sich hier der eklatanteste Mangel gegenwärtiger protestantischer Predigt. Sie zündet nicht, hat keine innere Vollmacht. Verleugnet sie gar ihre von Gott gesetzte Verkündigungskraft, so frage ich mich.“ (30-31)

Deneckes Fazit: Man muss nicht unbedingt evangelikal werden, wie die Kollegen, die er ja achtet, aber deren Überzeugungen er dennoch nicht teilt. Man darf und sollte ruhig liberal bleiben. Aber eines brauchen sie beide, die Evangelikalen und die Liberalen: Und das ist Vollmacht. Ein spannendes Plädoyer, zudem noch witzig und geistreich geschrieben. Aber was bedeutet es, vollmächtig zu predigen? Vor allem dann, wenn man sich damit, wie Denecke, auf das „Predigen in der Tradition des Juden Jesus“ beruft? Ein Blick ins Neue Testament lohnt sich sicher.

Autorität und Vollmacht im Neuen Testament

Das Wort „Autorität“ taucht, wie eingangs gesagt, in den meisten deutschen Bibeln nicht auf. Selbst in der lateinischen Bibel erscheint das Wort auctoritas nur ein einziges Mal, jedoch an unwichtiger Stelle (1. Kön 21,7). Ganz anders sieht es in englischen Bibeln aus: Hier wird das Wort authority allein im Neuen Testament zwischen 36 mal (King James Version) und 129 mal (New Living Translation) verwendet. Zwei neuere deutsche Übersetzungen des Neuen Testaments verwenden das Wort ebenfalls, allerdings immer noch deutlich sparsamer als die englischen Bibeln: In der „Volxbibel“ von Martin Dreyer erscheint es dreimal (Phil 2,10; 2. Thess 3,6; Heb 6,16), in der Übersetzung „Das Buch“ von Roland Werner immerhin insgesamt 27 mal.

Die Vielfalt der unterschiedlichen Bibelübersetzungen macht deutlich, dass der Begriff der Autorität auch in der christlichen Tradition sehr schillernd ist. Während deutsche Bibeln ihn vermeiden (und das nicht erst seit 1945 oder 1968), ist er im Englischen fast allgegenwärtig. Offenbar schwingen in den verschiedenen Sprachen ganz unterschiedliche Obertöne mit, wenn man das Wort verwendet. Achtgeben muss man dann allerdings bei der Über-setzung englischer Predigten, Bücher und Liedtexte. Denn das, was dort mit authority bezeichnet ist, weckt im deutschen Sprachgefühl oft ganz andere Assoziationen.

Ein vielfältiger Begriff

Die Unterschiedlichkeit der Bibelübersetzungen spiegelt die Vielschichtigkeit eines grie-chischen Wortes wieder, das im Neuen Testament insgesamt 102 mal verwendet wird, aber eben auf ganz verschiedene Weise übersetzt werden kann. Es ist das Wort exousia. Ein paar Beispiele aus der Luther-Übersetzung machen deutlich, wie viele Nuancen dieses Wort haben kann:

„Er lehrte sie mit Vollmacht“ (Mt 7,29)

„Auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan“ (Mt 8,9)

„… und gab ihnen Macht über die unreinen Geister“ (Mt 10,1)

„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18)

„Wenn sie euch aber führen werden in die Synagogen und vor die Machthaber und die Obrigkeit“ (Luk 12,11)

„…und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen“ (Lk 22,25)

„…denen gab er die Macht, Gottes Kinder zu heißen“ (Joh 1,12)

„Hättest du den Acker nicht in deinem Besitz behalten können…?“ (Apg 5,4)

„Jedermann sei Untertan der Obrigkeit“ (Röm 13,1)

„Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen“ (1. Kor 6,12)

„Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau“ (1. Kor 7,4)

„…weil er nicht unter Zwang ist und seinen freien Willen hat“ (1. Kor 7,37)

„Seht aber zu, daß diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird!“ (1. Kor 8,9)

„Haben wir nicht das Recht, zu essen und zu trinken?“ (1. Kor. 9,4)

„Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben um der Engel willen.“ (1, Kor 11,10)

„Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen“ (Eph 6,12)

„Selig sind, die ihre Kleider waschen, daß sie teilhaben an dem Baum des Lebens“ (Offb 22,14)

„Er redete mit Vollmacht…“: Jesus, seine Jünger und seine Gegner

In den Evangelien wird exousia in den meisten Fällen dazu gebraucht, die Person Jesu zu beschreiben. Am bekanntesten ist wohl der Satz, der die Bergpredigt abschließt:

„Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schrift­gelehrten.“ (Mt 7,28-29)

In der Vergangenheit hat man aus dieser Bemerkung oft vorschnell einen übertriebenen Kontrast zwischen Jesus und den jüdischen Lehrern seiner Zeit konstruiert: Dann stand auf der einen Seite der „vollmächtige“ Prediger Jesu, der nicht nur durch seine besondere persönliche Ausstrahlung, sondern auch durch seine fast schon protestantische Redekunst herausstach. Auf der anderen Seite stellte man sich blasse, schwächliche Gestalten vor, die nur langweilige Vorlesungen halten oder unverständliche religiöse Floskeln aufsagen konnten. Illustrationen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert untermalen dieses Bild durch die entsprechende klischeehafte Darstellung der jüdischen Lehrer mit grimmigem Blick und Hakennase. Dann ist natürlich auch verständlich, warum die Leute sich „entsetzten“, denn sie mussten das wortgewaltige Auftreten Jesu ja vor allem als Bedrohung empfinden.

Luthers Übersetzung schränkt unser Vorverständnis auch hier, wie so oft, unnötig ein. Denn anstelle von „Entsetzen“ könnte man hier auch „Erstaunen“ oder sogar „Begeisterung“ sagen. Das Wort an sich bedeutet nur eine starke emotionale Reaktion. Diese kann jedoch ebenso gut negativ wie positiv sein. Vermutlich war, wie sonst bei Jesus auch, beides dabei. Die Reaktion der Zuhörer ist also vielleicht gar nicht so ablehnend, wie es auf den ersten Blick scheint. Aber dennoch ist da ja offenbar etwas, worin sich Jesus von „ihren Schriftgelehrten“ unterscheidet. Und das ist die exousia.

Persönliche Ausstrahlung, Wunderkraft oder Wortgewandheit?

Aber worin zeigt sich denn dann diese exousia? Und vor allen Dingen: Was unterscheidet sie von den Schriftgelehrten, die hier mit Jesus verglichen werden? In der Vergangenheit hat man auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten gefunden: Manche deuten die „Vollmacht“ im Sinne einer persönlichen Ausstrahlung oder Wortgewalt des Predigers Jesus. Spricht man heute von einem „vollmächtigen Prediger“, dann denkt man, je nach Tradition und Prägung, ja entweder an besondere Lautstärke, an inhaltliche Überzeugungskraft oder an machtvolle Zeichen und Wunder, die mit einer Predigt einhergehen. Ist so etwas auch in Mt 7,29 gemeint? Dann hätte sich Jesus entweder durch seine Persönlichkeit, durch die Schlüssigkeit seiner Argumentation oder aber durch die Wunder, die er tat, von anderen Lehrern seiner Zeit abgehoben. Das letztere können wir ausschließen, da die Evangelien selbst davon berichten, dass auch andere jüdische Schriftgelehrte Wunder taten (Mt 12,27). War es also seine besonders überzeugende Argumentation? Auch das trifft auf die Bergpredigt kaum zu, denn Jesus argumentiert hier insgesamt wenig, sondern gibt direkte Anweisungen zur Lebensgestaltung. Und über seine persönliche Ausstrahlung erfahren wir auch wenig. Vor allem ist es kaum wahrscheinlich, dass es nicht zur gleichen Zeit auch andere wortgewandte Prediger in Israel gab, oder Schriftgelehrte mit einer sympathischen oder charismatischen Persönlichkeit. Das alles kann also mit dem Wort exousia wohl kaum gemeint sein. Die Autorität Jesu begründete sich nicht aus der Art seines Redens oder Auftretens, sondern aus einer anderen Quelle.

Falsch übersetzt?

Der jüdische Historiker Joseph Klausner schlug in seinem Jesus-Buch aus dem Jahr 1929 vor, dass es sich in Matthäus 7,29 um einen Übersetzungsfehler handeln müsse (1929:161). In der hebräischen Sprache ist das Wort maschal doppeldeutig: Zum einen bedeutet es „Macht haben“, zum anderen aber „Geschichten erzählen“ oder „in Gleichnissen reden“. Klausner nimmt nun an, dass die Worte in Mt 7,29 auf ein hebräisches Original zurückgehen, das von Matthäus versehentlich falsch übersetzt wurde. Ursprünglich habe es geheißen: „Die Leute staunten über Jesus, denn er lehrte in Gleichnissen (oder Geschichten), und nicht wie ihre Schriftgelehrten (nur in Rechtssätzen)“. Nach Klausners Meinung lehrten die jüdischen Gelehrten hauptsächlich in Rechtssätzen, und nur Gelegentlich mit Geschichten oder Gleichnissen. Bei Jesus sei es aber gerade anders herum. Diese Ansicht wurde später auch von dem deutschen jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide vertreten (1978:30). Ich selbst stehe zwar der Idee einer hebräischen Vorgeschichte der Evangelien grundsätzlich positiv gegenüber, bin aber bei solchen Versuchen, „Fehlübersetzungen“ nachzuweisen, eher skeptisch: Denn der Begriff exousia als Beschreibung für Jesus taucht ja in den Evangelien noch an vielen anderen Stellen auf, und dort passt die Übersetzung „Geschichtenerzähler“ meist nicht. Zudem stimmt es auch nicht, dass die alten Rabbinen keine Geschichtenerzähler waren. Im Gegenteil: Von ihnen sind hunderte von Gleichnissen und anderen Geschichten überliefert. Dieser Weg entpuppt sich also auch als Sackgasse.

Abgeleitete und unabhängige Autorität?

Eine andere Auslegungstradition sucht daher den Unterschied zwischen Jesus und den Schriftgelehrten noch einmal an anderer Stelle: Bereits John B. Lightfoot (1602-1675), der in einem umfangreichen Kommentar Paralleltexte zu den Evangelien aus jüdischen Quellen zusammentrug, schlug vor, dass hier ein Unterschied in der Art und Weise beschrieben werde, wie Jesus seine Lehraussagen begründete: Während nämlich alle jüdischen Gelehrten ihre Aussagen stets unter Berufung auf andere Rabbis machten, rede allein Jesus ohne Berufung auf andere Lehrer, nur aus der ihm selbst eigenen Autorität. Während es also im Talmud stets heiße: Rabbi X sagte im Namen von Rabbi Y, einem Schüler von Rabbi Z…“, stelle Jesus dem sein souveränes „Ich aber sage euch“ entgegen. Lightfoot sah hier einen Unterschied zwischen einer selbständigen und einer abgeleiteten Lehrautorität. Sein Urteil wurde später von vielen anderen Kommentatoren wiederholt, unter anderem in dem einflussreichen Kommentar von Hermann Ludwig Strack und Paul Billerbeck (1922:470), und sogar auch in dem unlängst von jüdischen Autoren herausgegebenen „Jewish Annotated New Testament“ (Gale 2011:16).

Aber ein genauerer Blick in die jüdische Literatur zeigt, dass diese Unterscheidung so nicht stimmt: Denn auch unter jüdischen Gelehrten war es durchaus üblich, seine Meinung ohne Berufung auf andere Lehrer in die Diskussion einzubringen. Der bekannteste Abschnitt der jüdischen Mischna, die „Sprüche der Väter“, ist sogar eine Sammlung solcher Aussprüche, die auf bekannte Persönlichkeiten zurückgehen. Und zwar ohne, dass diese sich dabei auf andere Lehrer berufen. Es ist typisch für die gelehrten Diskussionen der Mischna und des Talmud, dass die Meinungen und Gesetzesauslegungen unterschiedlicher Rabbis gegeneinander gestellt werden: Viele Gesetzesdiskussionen beginnen mit einer Formulierung der überlieferten Mehrheitsmeinung: „Die Rabbanan lehrten…“. Dann werden dieser Meinung die Lehren einzelner Rabbis gegenübergestellt:  „Rabbi X aber sagte“, „Rabbi Y aber sagte“. Die Struktur des Lehrstils ist also ganz ähnlich wie der der Bergpredigt. Auch hier zitiert Jesus zuerst eine bekannte Mehrheitsmeinung (die nicht unbedingt aus der Schrift stammen muss, wie etwa in Mt 5,43), um dieser dann seine eigene Auslegung entgegenzustellen.

Die Kette der Überlieferungen

Aber auch das andere kommt natürlich vor. Dass man zur Unterstützung der eigenen Meinung auf die eigenen Lehrer oder Vorgänger hinwies oder eine bestimmte Rechtsauffassung vortrug. Von dem wohl berühmtesten Lehrer des ersten Jahrhunderts, Hillel, wird sogar berichtet, dass man ihm anfangs misstraute, als er neue und bisher unbekannte Auslegungen des Gesetzes vorschlug, ohne sich auf andere Lehrer zu berufen:

„Einmal geschah es, dass der Tag des Passafest mit einem Sabbat zusammenfiel. Und man wusste nicht mehr, was in einem solchen Fall wichtiger war: Den Sabbat zu wahren oder das Passaopfer durchzuführen. Da sagten sie: Es gibt doch hier einen jungen Mann aus Babylon, er heißt Hillel, und er hat bei Schemaja und Avtalion gelernt (die beiden galten als die wichtigsten Lehrer in dieser Zeit). Vielleicht weiß er, ob man am Passafest den Sabbat brechen darf oder nicht. Wer weiß? Vielleicht kann am Ende ja doch noch etwas Gutes aus Babylon kommen“ (Jerusalemer Talmud, Pesachim 6)

Man holte Hillel also herbei, und er begründete den Fragenden ausführlich aus der Schrift, warum es am Sabbat erlaubt ist, das Passaopfer zu bringen. Aber den Leuten genügte der Schriftbeweis nicht:

„Obwohl Hillel ihnen den ganzen Tag die Schrift auslegte, nahmen sie seine Lehransicht nicht an, bevor er ihnen nicht einen Eid schwor und sagte: Gottes Strafe möge mich treffen, wenn ich lüge: Ich habe diese Auslegung von Schemaja und Avtalion gelernt. Daraufhin waren sie zufrieden und machten ihn zu ihrem Anführer.“

Was geschieht hier? Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als sei den Leuten die Begründung durch eine anerkannte Lehrautorität wichtiger als die Begründung aus der Schrift. Aber das wäre ein Missverständnis. Vielmehr geht es hier um das gleiche Traditions-prinzip, das auch in den katholischen und orthodoxen Kirchen bis heute gilt: Schriftauslegung ist demnach nicht die Sache eines Einzelnen, sondern immer Aufgabe der Gemeinschaft. Die individuelle Schriftauslegung muss sich daher immer daran messen lassen, ob sie in Kontinuität mit den überlieferten Lehren der Gemeinschaft steht: Handelt es sich um eine ganz neue Erfindung, oder lässt sie sich auch aus dem begründen, was Lehrer früherer Generationen gedacht und gesagt haben?  Dabei stehen diese Lehrer aber nicht über der Schrift, sondern unter ihr. Denn auch sie wiederum lehren ja nicht aus ihrer eigenen Autorität, sondern haben ihr Wissen von anderen Lehrern erhalten, die ihrerseits auch empfangen haben, was sie weitergeben (ähnlich formuliert es z.B. auch Paulus in 1. Kor 11,23). Dieses Grundprinzip der abgeleiteten Autorität wird in der Mischna so formuliert:

„Moses empfing Gottes Weisungen am Berg Sinai und gab sie an Josua weiter. Josua gab sie an die Ältesten weiter, die Ältesten an die Propheten, und die Propheten an die Männer der großen Versammlung (zur Zeit Esras). Simon der Gerechte gehörte zur großen Versammlung, und Antigonos von Socho empfing die Weisungen von Simon. Jose ben Joezer und  und Jose ben Jonathan wiederum empfingen ihre Lehren von diesen beiden.“ (Mischna Avot 1)

So wird die Kette der Lehrer weitergeführt, bis sie bei Schemaja und Avtalion ankommt, die schließlich die Lehrer von Hillel waren. In der Tat ist Autorität also bei den Rabbinen immer eine abgeleitete Autorität. Sie begründet sich nicht in der eigenen Person, nicht in Macht, Einfluss, Ausstrahlung oder Wortgewandtheit. Autorität gründet in der Verbindung zur Tora, und das bedeutet in diesem Zusammenhang: zu Gott selbst, der am Sinai geredet hat. Die Nennung der Lehrer, in deren Namen man spricht, dient nur der Erinnerung daran, dass man in dieser Kette der Überlieferungen steht, und seine Autorität daher letztlich nur von Gott selbst her ableiten kann.

Alle Autorität kommt von Gott

Das Prinzip der abgeleiteten Autorität könnte auf den ersten Blick nach Anmaßung oder Selbstüberschätzung klingen. Und in der Tat ist es in der Vergangenheit so verwendet worden, etwa da, wo man sich auf die Worte des Paulus berufen hat, um die eigene politische Macht zu begründen:

„Jeder ordne sich den übergeordneten Autoritäten unter, denn es gibt keine Autorität (exousia), die nicht von Gott kommt. Und die, die es gibt, die sind unter Gott eingeordnet“  (Röm 13,1)

Wenn man jedoch genau hinschaut, möchte Paulus hier eigentlich gerade das Gegenteil aussagen: Er relativiert menschliches Machtstreben, indem er jede menschliche Autorität letztlich Gott unterordnet: Selbst der mächtigste Mensch der Welt kann seine Autorität nur von Gott herleiten. Andernfalls hat er gar keine. Diese Worte mahnen also eigentlich zur Demut und warnen vor Anmaßung. Das jüdische Prinzip der abgeleiteten Autorität soll also menschliche Willkür und Überheblichkeit vermeiden, indem es jeden Menschen vor die Herausforderung stellt, sein eigenes Handeln und Reden am Handeln und Reden Gottes, wie es sich in der Schrift zeigt, zu messen. Diese Einsicht führt dazu, dass in der rabbinischen Tradition die gemeinsame Schriftauslegung sogar höher steht als übernatürliche Eingebungen oder prophetische Gottesworte. Das wird besonders humorvoll deutlich an der folgenden Episode, in der berühmte Lehrer über unterschiedliche Auslegungen der Reinheitsgebote streiten:

„An jenem Tag brachte Rabbi Eliezer alle möglichen Argumente für seine Meinung vor, aber man stimmte ihm nicht zu. Also sprach er: ‚Wenn ich Recht habe, dann wird dieser Baum dort es beweisen.‘ In diesem Moment erhob sich der Baum mitsamt seiner Wurzel und verpflanzte sich an eine andere Stelle. Aber die Leute erwiderten: Ein Baum kann doch keine Begründung für eine Lehrmeinung sein. Daraufhin sagte Rabbi Elieser: Wenn ich Recht habe, dann wird dieser Fluss dort es beweisen. Und in diesem Moment floss das Wasser des Flusses rückwärts. Aber die Leute erwiderten: Auch ein Fluß kann keine Begründung für eine Lehrmeinung sein. Also sagte Elieser: Wenn ich Recht habe, dann werden die Wände unseres Lehrhauses das beweisen. In diesem Moment begannen die Wände des Hauses an zu wackeln und drohten einzustürzen. Da wies Rabbi Josua die Wände zurecht und sagte: Wenn Gelehrte miteinander über die Schrift streiten, was mischt ihr euch da ein? Also stürzten die Wände des Hauses nicht ein, aus Respekt vor Rabbi Josua. Aber sie wurden auch nicht wieder ganz grade, aus Respekt vor Rabbi Elieser. Bis heute sind sie deshalb immer noch schief.

Rabbi Elieser versuchte es daraufhin noch einmal und sagte: Wenn ich Recht habe, dann soll eine göttliche Stimme vom Himmel mir zustimmen! Und tatsächlich erscholl eine göttliche Stimme vom Himmel und sprach: Warum widersprecht ihr Rabbi Elieser? Denn in jedem einzelnen Punkt entspricht die Tora doch seiner Lehrmeinung. Aber auch hier erwiderte Rabbi Josua: Die Schrift sagt: „Meine Worte sind nicht im Himmel“ (5. Mose 30,12). Was meinte er damit? Rabbi Jeremia sagte: Das bedeutet doch, dass uns die Tora am Sinai gegeben wurde. Wir brauchen also nicht auf himmlische Stimmen zu hören, denn schon in der Tora steht geschrieben: ‚Ihr sollt nach der Mehrheit entscheiden!‘ (2. Mose 23,2). Rabbi Nathan fragte später einmal den Elia (der ja lebendig in den Himmel aufgefahren war): Wie hat der Allmächtige auf diese Antwort reagiert?  Elia antwortete: ‚Er hat schallend gelacht und ausgerufen: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt!“ (Babylonischer Talmud, Baba Metzia 59b)

Die Gelehrten entschieden sich also aufgrund der Schrift gegen die Meinung von Rabbi Elieser und sogar gegen die himmlische Stimme. Und bis heute wird an diese Episode erinnert, wenn in jüdischen Diskussionen die Frage aufkommt, welches die höchste Autorität ist: Menschliche Autorität ist immer aus der Schrift abgeleitete Autorität, weil Gott selbst sich an seine Schrift bindet. Deshalb können weder Naturwunder noch empirische Beobachtungen, und selbst eine Stimme vom Himmel keine höhere Autorität beanspruchen.

Vom „Können“ zum „Können“: Oder von der Macht zur Erlaubnis

Für diese, aus der Schrift abgeleitete Autorität haben die jüdischen Rabbinen in der Zeit Jesu ein ganz eigenes Wort geprägt, dass es im biblischen Hebräisch noch nicht gab: reschut, abgeleitet von dem Wort rosch (Haupt). Reschut ist die gesetzliche oder rechtliche Befugnis, etwas zu tun oder zu entscheiden (z.B. Sünden zu vergeben, vgl. Mk 2,10). Reschut beschreibt die Tatsache, dass etwas nach dem Gesetz erlaubt ist (womit es nicht immer automatisch auch gut und richtig sein muss: z.B. Fleisch aus einem Götzentempel zu essen, vgl. 1. Kor 8,8-9). Reschut ist das gesetzlich verbriefte Recht, auf das man einen Anspruch hat (z.B. das „Recht, Kinder Gottes zu heißen“ Joh 1,12). Reschut ist aber auch der Brief, der eine solche Berechtigung bescheinigt (z.B. die Gemeinde zu verfolgen, vgl. Apg. 9,14). Reschut ist die Behörde, die regiert oder rechtliche die Entscheidungen trifft (z.B. Statthalter, Gerichte oder Herrscher, vgl. Lk 12,11; Röm 13,1). Bis heute tragen die verschieden Behörden und Ministerien in Israel deshalb diese Bezeichnung: Da gibt es die Reschut für Steuerfragen, die Reschut für Religion, die Reschut für Außenpolitik. In rabbinischer Zeit steht Reschut außerdem auch für die offizielle Lehrbefugnis eines Rabbis. Diese Verwendung ist aber erst mehrere hundert Jahre nach Jesus nachweisbar.

Die Tatsache, dass es das Wort reschut in alttestamentlicher Zeit noch nicht gab (exousia ist hier fast ausschließlich die Übersetzung für „Herrschaft“ oder „Macht“, sei es von irdischen Königen oder von Gott), macht einen Bedeutungswandel und ein verändertes Selbst-verständnis deutlich: exousia leitet sich nämlich von dem griechischen Verb exestin ab, das eigentlich „können“ bedeutet. Nun kann man solches „Können“ ja ganz unterschiedlich verstehen: Gott zum Beispiel kann alles, weil er allmächtig ist. Ein irdischer König dagegen kann nur das, was in seiner politischen Macht steht. Daher steht exousia im Alten Testament für politische Macht und Stärke, die entweder angemaßt oder von Gott verliehen ist.

In der Zeit des Neuen Testaments aber wandelt sich dieses Verständnis: Denn zum einen haben die jüdischen Gelehrten ihre politische Macht eingebüßt: Andere sind inzwischen an der Regierung. Zum anderen aber haben sie nun eine Schrift, die für sie die höchste Quelle der Autorität ist. Was ich kann und was ich nicht kann, bemisst sich daher nicht mehr an meiner politischen Macht und Stärke, sondern daran, ob ich es aus der Schrift ableiten oder begründen kann. Menschliche Autorität wird damit bescheidener. Aus einer exousia, die sich durch Macht und Stärke behauptet, wird eine exousia, die sich durch Bindung an die Schrift behauptet. Die Frage „Kann ich das?“ ist daher nicht mehr orientiert an meiner eigenen Stärke oder Durchsetzungskraft, sondern an der Frage „Ist das Gottes Wille? Ist es erlaubt? Bin ich dazu berechtigt oder befugt?“ Deshalb entsteht ein ganz neuer Begriff, der sich auch in den neutestamentlichen Texten widerspiegelt – und der uns auch etwas sagt über unser eigenes Verständnis von Autorität und Vollmacht.

Jesus und die abgeleitete Autorität

Wie ist es nun aber bei Jesus? Von ihm wird gesagt, er lehre „wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie ihre Schriftgelehrten“. Ist seine Vollmacht also nicht abgeleitet? Jesus selbst sieht das anders:

„Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, sodass ihr euch verwundern werdet. Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will. Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben, […] und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.“ (Joh 5,19-22 und 27)

Jesus bewegt sich hier ganz in den Bahnen jüdischer Überzeugungen: Es gibt keine Voll­macht außer der, die sich von Gott ableitet. Nicht die eigene Unabhängigkeit, sondern gerade die enge Bindung an Gott ist für ihn Quelle und Grund seiner Vollmacht. Häufig macht Jesus das auch deutlich. indem er seine Worte aus der Schrift begründet. Aber hier, an dieser Stelle, kommt ein wichtiger neuer Aspekt hinzu: Jesus leitet seine Autorität hier nicht von der Tora ab, die am Sinai übergeben wurde, sondern vom Gericht, das an den Menschensohn übergeben wurde. Damit spielt er auf eine Schriftstelle aus Daniel 7,14 an, in der ebenfalls von göttlicher exousia die Rede ist, und das gleich dreimal:

„Und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.  Der gab ihm Vollmacht (exousia), Ehre und Herrschaft, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Vollmacht ist eine ewige Vollmacht und vergeht nicht, und seine Herrschaft hat kein Ende.“ (Dan 7,13-14)

Hier gibt es also einen neuen Bezugspunkt für die von Gott gegebene Vollmacht: Während Gott am Sinai den Menschen die Vollmacht erteilte, die Schrift auszulegen und damit die eigene Vollmacht auf die Vollmacht Gottes zurückzuführen, blickt Daniel in die Zukunft: Eines Tages wird Gott, der Herr, seine Vollmacht an einen übergeben, der wie ein Menschensohn aussieht. Dann wird Gottes Vollmacht nicht in Buchform, sondern in menschlicher Gestalt zu den Menschen kommen. Und alle menschlichen und göttlichen Urteile werden am Ende an dem gemessen, was der Menschensohn sagt. Damit wird nicht gesagt, dass das Wort Gottes in diesem Menschensohn dem Wort Gottes widerspricht, das uns in der Schrift gegeben ist. Sondern es wird gesagt, dass der Menschensohn letztlich darüber entscheidet, was schriftgemäß ist und was nicht. Auch er hat eine abgeleitete Vollmacht, aber sie ist ihm von seinem Vater im Himmel übergeben.

Blicken wir nun noch einmal zurück zum Abschluss der Bergpredigt, dann entdecken wir, dass Jesus genau dort auf die gleiche himmlische Szene anspielt: Das ganze Kapitel 7 der Bergpredigt handelt vom Richten. Dabei geht es zuerst darum, wie wir Menschen über einander richten und wie sehr wir dabei manchmal daneben liegen können. Dann aber redet Jesus über das endgültige Gericht. Und hier geschieht etwas wirklich Überraschendes: In der ganzen Bergpredigt hatte Jesus bisher viele Dinge gesagt, die für seine jüdischen Hörer selbst-verständlich waren. Selbst die sogenannten „Antithesen“ sind ja kein Widerspruch gegen die Tora oder jüdische Gesetze, sondern lediglich eine Verschärfung. Aber jetzt, am Ende seiner Predigt, geht Jesus einen Schritt weiter: Denn nun behauptet er, dass er selbst am Ende der Zeit derjenige sein würde, der über ewiges Leben oder ewiges Gericht entscheidet. Alles menschliche Urteil muss sich letztlich an dem Urteil messen lassen, das Jesus spricht, wenn Menschen dereinst vor ihm stehen werden. Und am Urteil Jesu entscheidet sich, ob das Haus stehen Bestand hat oder in sich zusammenfällt. Jesus beansprucht hier die Vollmacht für sich, die nur der Menschensohn aus Daniel 7,14 am Ende der Tage von seinem himmlischen Vater erhält. Und dieser Anspruch ist es, der weit über das hinausgeht, was je ein jüdischer Lehrer von sich behauptet hat: Jüdische Lehrer leiten ihre Autorität von der Autorität ab, die Gott seinem Volk am Sinai übergeben hat. Jesus aber leitet seine Autorität von der Autorität ab, die Gott im Himmel dem Menschensohn übergeben wird. Beides steht nicht gegeneinander, sondern bildet jeweils den Anfangspunkt und den Endpunkt einer Geschichte, die Gott mit seinem Volk geht. Jesus aber beansprucht, dieser Endpunkt zu sein, auf den alles hinläuft. Deshalb sollte man Matthäus 7,29 auch nicht, wie Luther, übersetzen mit „er lehrte mit Vollmacht“, sondern wörtlicher:

„Und es begab sich, als Jesus diese Worte vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ (Matth 7,28-29)

Erschrecken (oder: Erstaunen und Begeisterung) machen sich breit, nicht weil Jesus einen anderen Redestil hat oder andere Lehren lehrt als die Schriftgelehrten. Auch nicht deshalb, weil Jesus keine anderen Lehrer zitiert. Das Erstaunen wird, so verstehe ich diesen Text, vielmehr durch den überraschenden Anspruch Jesu am Ende seiner Rede ausgelöst: Denn hier beansprucht er, nicht nur ein Lehrer der Schrift zu sein, sondern der von Gott bevollmächtigte Menschensohn, der von Gott die Vollmacht erhalten hat, am Ende der Tage über alle Menschen das Urteil zu sprechen. Es ist also die Person Jesu, nicht seine Lehre oder sein Redestil, die hier am Ende der Rede plötzlich und überraschend im Zentrum des Interesses steht.

Die Autorität Jesu und unsere Autorität

Weil Jesus Autorität hat, kann er seinen Jüngern und Nachfolgern Anteil geben an dieser Autorität. Auch hier wird Autorität wieder, wie in der jüdischen Tradition, von Hand zu Hand weitergegeben:

„Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen exousia über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen.“ (Mt 10,1)

Wie soll man exousia hier übersetzen? Nach dem bisher Gesagten wäre unterschiedliches möglich: Übersetzt man mit „Vollmacht“, dann verleiht das zwar Ich-Stärke, trägt aber auch die Gefahr in sich, in gefährliche Allmachtsphantasien abzugleiten. Übersetzt man mit „Erlaubis“, dann klingt es bescheidener, macht aber zugleich deutlich, dass die Jünger im Auftrag handeln und nicht aus eigener Macht. „Er gab ihnen das Recht“ stärkt wiederum das Selbstbild und verleiht eine Art inneren Adel. Vermutlich ist von allem ein wenig gemeint. Und es kommt darauf an, die unterschiedlichen Nuancen in Balance zu halten.

Bei Paulus erscheint der Begriff der exousia oft da, wo es um Fragen der Gesetzesauslegung im Alltag geht. Ist dies oder jenes „erlaubt“, oder vom Gesetz her verboten? Manche Übersetzungen geben das Wort deshalb auch mit „Freiheit“ wieder. In fast allen diesen Fällen versucht Paulus aber deutlich zu machen: Was rechtlich erlaubt ist und was ethisch richtig ist, sind zwei verschiedene Fragen. Nicht alles, was legal ist, ist deshalb auch schon fair oder richtig. Das gilt in Fragen der heutigen Wirtschaftsethik und der Medizin ebenso wie in der Welt des Paulus: So ist es zwar vom jüdischen Gesetz her erlaubt, Fleisch aus Götzentempeln zu essen, aber für Paulus ist es dennoch moralisch falsch, weil es anderen eine falsche Botschaft vermittelt (1. Kor 8,8-9 und 13). Zwar hätten die Apostel ein Recht darauf, von der Gemeinde unterstützt zu werden, aber sie nehmen es nicht in Anspruch, um euch nicht zur Last zu fallen (1, Kor 9,4-12). Zwar hat der Mann ein Recht auf seine Ehefrau, aber er sollte darauf nicht unbedingt und immer bestehen, vielleicht sogar ganz auf das Heiraten verzichten (1. Kor 7,4-7). Zwar könnte ich mein Recht vor Gericht erzwingen, aber dann würde ich mich letztlich auch einem fremden Recht beugen, was ich gar nicht will (1.Kor 6,12). Ja, auch politische Macht ist legal, aber sie sollte dabei nicht vergessen, dass sie unter Gott steht und sich an seinen Maßstäben orientieren muss (Röm 13).

In beiden Fällen, bei der Aussendung der Jünger und bei den Rechtsfragen des Paulus gilt: Unsere Autorität ist kein Freibrief für uns, dem eigenen Wunsch nach Macht oder Freiheit freien Lauf zu lassen. Unsere Autorität bleibt, wie die Autorität Jesu, immer eine abgeleitete Autorität. Sie gründet sich in unserer Bindung an die Person Jesu und an das Wort Gottes, wie es in der Schrift offenbart wurde. Und sie schwindet, je mehr wir diese Bindung lösen.

Das neutestamentliche Zeugnis gibt uns also zum Thema „Autorität“ einen doppelten Impuls: Einerseits ermutigt und ermächtigt es uns: Wir dürfen, können, sollen leben aus der Berechtigung, der Befähigung und der Freiheit, die Gott uns anvertraut und mitgibt. Das stärkt die Persönlichkeit, gibt Hoffnung, motiviert zum Handeln, gibt Kraft für Krisen, ermutigt zum Widerstand. Die verbreitete Skepsis gegenüber den Konzepten der Autorität und der Vollmacht, die zu dem blassen und blutleeren Bild des Christentums geführt haben, das Axel Denecke eingangs so anschaulich beschrieb, liegt dem Neuen Testament fern.

Gleichzeitig aber werden beide Begriffe im Neuen Testament definiert und gebrochen durch ihre Bindung an die göttliche Autorität, von der sie sich ableiten. Nur diese Bindung bewahrt letztlich vor dem Missbrauch, gegen den sich die Welt nach 1945 und 1968 berechtigt aufgelehnt hat. Eine Autorität, die sich loslöst von ihrer Quelle, wird entweder schnell ins Leere laufen oder aber zerstörerische Kraft entfalten. Das gilt für politische Machhaber ebenso wie für Menschen im geistlichen Dienst oder in missionarischem Auftrag. Und es gilt auch für die, die auf Autorität am liebsten ganz verzichten wollen, aber damit letztlich nur sich selbst zur höchsten Autorität erklären.

 

Literatur:

Campenhausen, Hans Freiherr von: Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (BHT 14): Tübingen: J.C.B. Mohr 2. Auflage 1963

Denecke, Axel: Vollmächtig und Liberal! Predigen in der Tradition des Juden Jesus. Berlin: LIT Verlag 2009

Gale, Aaron M: The Gospel according to Matthew. Introduction and Annotations. In: Levine, Amy Jill (Hg.): The Jewish Annotated New Testament. Oxford: University Press 2011, 1-54

Lapide, Pinchas: Hidden Hebrew in the Gospels. Immanuel 2/1978, S. 28-34

Klausner, Joseph: Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre. Berlin: Jüdischer Verlag 1929 (Hebräisches Original: Jerusalem 1929)

Rebell, Walter: Alles ist möglich dem, der glaubt. Glaubensvollmacht im frühen Christentum. München: Ch. Kaiser 1989

Scholtissek, Klaus: Vollmacht im Alten Testament und Judentum. Begriffs- und motivgeschichtliche Studien zu einem bibeltheologischen Thema.

Quelle: MBS Jahrbuch 2016, S. 44-62 (1 MB)

(Original-Artikel hier als PDF herunterladen).

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