„Paulus und das Alte Testament“ (Brennpunkt Gemeinde 6/2017)

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Paulus und das Alte Testament
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Wie hielt es der Apostel Paulus mit dem Alten Testament? Die Antworten auf diese Gretchenfrage gehen seit den Anfängen der Christenheit weit auseinander: Schon im zweiten Jahrhundert führte der progressive Gemeindegründer Markion die Briefe des Paulus als Kronzeugen für seinen Kampf gegen das Alte Testament ins Feld. Auch Luthers Kontrastierung von „Gesetz und Evangelium“ hat – zu Unrecht, wie wir noch sehen werden – in der evangelischen Tradition viel zu dieser Abwertung des Alten Testaments beigetragen.

Paulus – ein Verächter des Alten Testaments?

Aber auch viele jüdische Autoren der Neuzeit haben Paulus ein gebrochenes Verhältnis zum Alten Testament vorgeworfen: So vermutete Heinrich Graetz, der große jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts, Paulus habe „nur geringe Kenntnis vom judäischen Schrifttum gehabt“ und „die heilige Schrift nur aus der griechischen Übersetzung“ gekannt. Deshalb habe er „das Christentum als völligen Gegensatz gegen das Judentum“ aufgefasst und sei „geradezu darauf aus [gewesen], alle Fäden zu zerreißen, welche die Christuslehre mit dem Judentum verknüpften“ (Geschichte der Juden Bd. 3/1988, 414-420). Martin Buber stellte in seiner vielbeachteten Schrift „Zwei Glaubensweisen“ (1950) die These auf, dass Judentum und Christentum deshalb so unvereinbar seien, weil Jesus und die jüdische Tradition sich auf den alttestamentlichen Glaubensbegriff (emuna) gründeten, während Paulus und das Christentum einen neuen, und dem Alten Testament völlig fremden, Glaubensbegriff eingeführt hätten (pistis), der aus der griechisch-römischen Kultur stamme. Noch in jüngster Zeit haben Autoren sowohl von jüdischer Seite (Hyam Maccoby) als auch von christlicher Seite (Gerd Lüdemann) dem Apostel einen groben Missbrauch des Alten Testaments und damit zugleich eine Verfälschung der Lehre Jesu vorgeworfen.

Eine Trendwende: Neue Perspektiven

Solchen Paulusdeutungen standen jedoch schon immer auch andere Stimmen gegenüber: So wurde etwa Adolf Schlatter Zeit seines Lebens dafür belächelt, dass er in seinen Kommentaren Paulus als einen schrifttreuen jüdischen Ausleger des Alten Testaments darstellte. Man schrieb das seinem schlichten pietistischen Gemüt zu. Heute jedoch hat sich das Blatt grundlegend gewendet: Die Ansätze der „neuen Paulusperspektive“ haben, sowohl bei ihren Anhängern als auch bei ihren Gegnern, dazu geführt, die Beziehung des Apostels zum Judentum und zum Alten Testament neu zu bewerten. Und Peter Stuhlmacher urteilt in einem Artikel über „Adolf Schlatter als Paulusausleger“ (1991): „[Damals] konnte man dies belächeln und als unwichtige Einzelmeinung beiseiteschieben. Heute können wir dies nicht mehr. Wir müssen vielmehr zugestehen, dass Schlatters Sicht die historisch bessere und wegweisende war und ist“.

Florian Wilk fasst in seinem Beitrag für das jüngst erschienene Paulus-Handbuch (2013) zusammen: „In formaler und methodischer Hinsicht entsprechen die expliziten Schriftbezüge des Apostels eher der im palästinischen Raum beheimateten Schriftgelehrsamkeit; nur gelegentlich berühren sie sich mit der Exegese des hellenistischen Diasporajudentums. Dazu passt der Umstand, dass sich inhaltliche Parallelen zu seinen durch Zitate und Paraphrasen vollzogenen Interpretationen zumeist in Texten palästinischer Provenienz (z.B. Jubiläenbuch, Apokalypse des Moses, diverse Qumrantexte), in Targumim oder in rabbinischen Schriften finden. Die Selbstbezeichnung „Hebräer“ gilt also auch für den Schriftausleger Paulus“.

Das Alte Testament als Quelle und Maßstab der Verkündigung

In der Tat kann kein Zweifel sein, dass das Alte Testament für Paulus der zentrale Bezugspunkt ist, aus dem heraus er seine Botschaft von Jesus entwickelt. Natürlich ist seine Begegnung mit dem Auferstandenen selbst der eigentliche Ausgangspunkt. Und die Jesusüberlieferungen, die er schon früh aus dem Kreis der Augenzeugen und Jünger empfing, bilden das Kernmaterial des Evangeliums. Aber das Alte Testament ist es, das Paulus heranzieht, um diese Erfahrungen und Ereignisse verbindlich zu deuten, sie zu verstehen und sie als endzeitliche Erfüllung der göttlichen Verheißungen zu verkündigen. Das Alte Testament dient ihm als Argumentationsgrundlage, als Beweisstück, als Anschauungsmaterial, als Inspiration und als Maßstab ethischer Orientierung.

Die Bezeichnung „Altes Testament“ verwendet Paulus dabei nur ein einziges Mal im Sinne einer Schrift, aus der man liest (2. Kor 3,14). Verständlich: Denn es gab ja noch kein „Neues Testament“, das man ihm entgegenstellen konnte. Für Paulus ist es daher einfach „die Schrift“ (Röm 4,3; 1. Kor 15,3-4 u.ö.) oder die „heiligen Schriften“ (Röm 1,2). Aber auch das Wort „Gesetz“ bezeichnet bei Paulus oft die Tora im Sinne der 5 Bücher Mose – manchmal aber auch andere alttestamentliche Schriften, z.B. das Buch Jesaja (1. Kor. 14,21) oder die Psalmen (Röm 3,19). Auch personifizierte  Einleitungen wie „David sagt“ (Röm 11,9) oder „Jesaja sagt“ (Röm 15,12) verweisen bei Paulus auf die entsprechenden alttestamentlichen Bücher.

Jüdische Methoden der Schriftauslegung

Die Briefe des Paulus sind getränkt und durchsetzt mit solchen Verweisen und Bezügen zu alttestamentlichen Schriften. In ihrer Auslegung bedient sich Paulus verbreiteter Methoden jüdischer Schriftexegese: So deutet er alttestamentliche Erzählungen, wie auch schon vor ihm der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien, allegorisch und findet darin verborgene Botschaften für den heutigen Leser (z.B. Gal 4,22-25; 1. Kor 10,1-11). Aber auch rabbinische Auslegungsmethoden, die in der jüdischen Tradition auf den großen Lehrer Hillel zurückgeführt werden, finden sich bei Paulus: Etwa der Schluss vom Kleineren aufs Größere (kal wachomer) in 2. Kor 3,7-11 und Röm 5,15-17. Oder der Verknüpfung von zwei Schriftversen durch ein gemeinsames Signalwort (gezera schawa). In Gal 3,6-13 reiht Paulus gleich 6 solcher Verknüpfungspaare hintereinander (Gen 18,8 und 12,3 durch das Wort „Segen“; Gen 12,3 und 15,6 durch das Wort „Abraham“; Gen 15,6 und Hab 2,4 durch das Wort „Glauben“; Hab 2,4 und Lev 18,5 durch das Wort „Leben“; Lev 18,5 und Dtn. 27,6 durch das Wort „tun“; Dtn. 27,26 und Dtn 21,23 durch das Wort „Fluch“). Und heraus kommt ein verblüffendes Ergebnis: Die „Rechtfertigung allein aus Glauben“, Kernbotschaft des Paulus, ist keine neutestamentliche Erfindung, sondern begründet in den Schriften des Alten Testaments! Woher also stammt die immer noch verbreitete Ansicht, Paulus sei ein Gegner oder Verächter des Alten Testaments gewesen? Ein genauerer Blick lohnt sich.

Gesetz und Evangelium – ein Gegensatz?

Ein Grund für die negative Sicht des Alten Testaments, die bis heute bei vielen Christen verbreitet ist, ist die Antithese von Gesetz und Evangelium, die durch Martin Luther geprägt wurde. Meistens jedoch wird diese völlig missverstanden: Weil Paulus das Wort „Gesetz“ oft synonym für das Alte Testament (oder zumindest die Mosebücher) verwendet, und weil das Neue Testament mit den „Evangelien“ beginnt, setzen viele evangelische Christen Luthers Gegensatz von „Gesetz und Evangelium“ mit einem Gegensatz von „Altem und Neuem Testament“ gleich. Daraus entsteht dann oft ein schwarz-weiß geprägtes Bild, in dem das Alte Testament die Rolle des „Bad Cop“ spielt, und das Neue die Rolle des „Good Cop“: Das Alte Testament wird dann zu einem Buch der Vorschriften, der Anklagen und der Forderungen, ja vielleicht sogar das Buch eines „zornigen und strafenden Gottes“ im Sinne Markions, eine einzige „Geschichte des Scheiterns“ (Rudolf Bultmann). Erst das Neue Testament dagegen bringe die gute Botschaft vom liebenden Vater, von der befreienden Gnade und von der Erlösung. Kein Wunder, dass das Alte Testament auf diesem Weg schlechte Presse erhält.

Was Luther eigentlich meinte

Von Luther jedoch war das nie so gemeint, und schon gar nicht von Paulus. Im Gegenteil: Für Paulus ist ja gerade das Evangelium „durch die Propheten in der Heiligen Schrift“ (also im Alten Testament) verheißen (Röm 1,2). Das Evangelium ist also für Paulus eine alttestamentliche Botschaft, ebenso wie der gnädige und liebende Gott für ihn der Gott des Alten Testaments ist (Röm 9,15). Was viele nicht wissen: Wenn Luther „Gesetz und Evangelium“ unterschied, dann benutzte er die beiden Begriffe als Platzhalter für ein theologisches Konzept: „Gesetz“ war für ihn der Inbegriff für alles, was Gott von uns fordert, sein Anspruch an den Menschen – sei es im 5. Buch Mose oder in der Bergpredigt! „Evangelium“ dagegen war für ihn der Inbegriff für jeden Zuspruch der Gottes, sei es in den Psalmen, in Jesaja, oder im letzten Abendmahl. Mit anderen Worten: „Gesetz“ steht für alles Fordernde, Strafende, Bedrückende und Angstmachende in der Bibel, „Evangelium“ für alles Gnädige, Vergebende, Befreiende und Frohmachende. Und in der Tat: Wenn wir die Worte so füllen, dann finden wir jede Menge „Evangelium“ schon im Alten Testament. Und nicht nur dort, wo es später messianisch auf Jesus hin gedeutet wurde. Sondern überall dort, wo uns Gottes Gnade begegnet. Mit einem Kontrast zwischen Altem und Neuem Testament hat diese Definition aber nichts zu tun.

Paulus: Freude am Gesetz

Das Problem für unsere Paulusauslegung ist allerdings: Paulus kannte diese lutherische Definition von Gesetz und Evangelium noch nicht, sie wäre ihm auch sehr fremd gewesen. Das Gesetz ist für Paulus „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12) – und für ihn sind alle drei Adjektive positiv gefüllt. Wer einmal in einer Synagoge das Fest der Torafreude (Simchat Tora) miterlebt hat, dem wird es schwerfallen, die einseitig negative Sicht des Gesetzes beizubehalten, die uns eine vermeintlich lutherische Auslegungstradition beschert hat. Sicher: Paulus verweist das Gesetz in seine Schranken. Es konnte weder die Sünde verhindern (das wäre laut Gal 3,19 seine Aufgabe gewesen), noch den Menschen erlösen (das war laut Röm 3,20 und Gal 3,17-21 nie seine Aufgabe). Stattdessen wurde es selbst von der Sünde als Geisel genommen und als Waffe gegen die Menschen eingesetzt, die es doch eigentlich schützen sollte (Röm 7,10-13). Mit anderen Worten: Nicht das Gesetz an sich ist für Paulus böse, sondern erst sein Missbrauch durch die Sünde. Nicht das Gesetz ist ein Fluch, von dem man erlöst werden müsste, sondern im Gegenteil: Dieser Fluch trifft ja nur die, die das Gesetz nicht tun (Gal 3,13). Wichtig ist aber vor allem eins: Diese sehr komplexe Sichtweise des „Gesetzes“ bei Paulus dürfen wir nicht einfach auf das ganze „Alte Testament“ übertragen. Denn das Alte Testament besteht ja eben nicht nur aus Gesetzen und Vorschriften, sondern eben auch (und das zum größeren Teil!) aus Verheißung und Zuspruch. Paulus illustriert das sehr bildhaft an der Beobachtung, dass die Verheißung an Abraham eben 430 Jahre älter ist als die Gabe des Gesetzes an Mose (Gal 3,17).

Freiheit vom Gesetz?

Auch die gerade im Reformationsjubiläum oft zitierte Formel von der „Freiheit vom Gesetz“ hat zum negativen Image des Alten Testaments beigetragen, weil wir sie auf das Gesetz des Mose, und teilweise sogar auf das ganze Alte Testament, bezogen haben. Durch unglückliche Übersetzungen und Auslegungen haben wir zudem dunkle Bilder heraufbeschworen, die sich bei näherem Hinsehen allerdings oft als Missverständnisse entpuppen: So denken wir beim „Zuchtmeister“ (Gal 3,24) an ein Zuchthaus, in dem man gefangen ist. Das griechische Wort paidagogos aber bezeichnet den Betreuer, der das Kind auf dem gefährlichen Weg zur Schule bewacht und beschützt. Das Wort „einschliessen“ (Gal 3,22-23) deuten wir sofort auf das Bild eines Gefängnisses. Dabei zeigt ein genauerer Blick auf die verwendeten griechischen Vokabeln hier ein anderes Bild: Paulus vergleicht die Tora mit einer Festung, in deren Mauern wir sicher „eingeschlossen“ sind, während wir von der Sünde „umzingelt“ sind. Das „Joch“ aus Gal 5,1 beziehen wir ganz selbstverständlich auf das „drückende Joch des Gesetzes“, von dem wir durch das Evangelium befreit werden müssen. Dabei zeigt ein Blick in den vorangehenden Kontext, dass mit dem Joch die „Knechtschaft unter den Mächten dieser Welt“ gemeint ist. Echte Freiheit dagegen führt dazu, dass wir das Gesetz Gottes erfüllen (Gal 5,13-14). Und die vielbeschworene „Freiheit vom Gesetz“, von der Paulus in Römer 7 spricht, bezieht sich gerade nicht auf die Tora, sondern auf deren Gegenstück, das „Gesetz der Sünde und des Todes“, von dem wir durch Christus befreit werden, um nun im „Gesetz Gottes“ (Röm 7,22-25) unsere wahre Freiheit zu finden. Für einen jüdischen Bibelausleger wie Paulus wäre es geradezu absurd, Freiheit und Tora als Gegensatz zu sehen: Schon der Einleitungssatz der Zehn Gebote macht deutlich, dass diese nicht in Sklaverei hineinführen, sondern aus dieser befreien (Ex 20,2). So deuten es auch später die rabbinischen Ausleger: „Wer das Joch das Gesetzes auf sich nimmt, der wird dadurch frei von jedem menschlichen und irdischen Joch“ (Pirke Avot 3,5). Einer von ihnen schlägt vor, man solle in Ex 32,16 nicht lesen: „Die Worte des Gesetzes waren eingegraben (charut) auf den Tafeln“, sondern stattdessen: „Sie waren Freiheit (cherut) auf den Tafeln!“.

Eine Decke vor den Augen?

Ein besonders tragisches und folgenreiches Missverständnis hat das Bild ausgelöst, das Paulus in 2.Kor 3 verwendet: Viele Christen reden bis heute von der Decke, die vor den Augen der Juden hängt, so dass sie blind sind für die Botschaft des Neuen Testaments. Nun ist es wahr, dass Paulus an anderen Stellen das Bild der Blindheit verwendet (Röm 11,8-10). Dieses Bild haben wir aber zu Unrecht auch auf 2. Kor 3 übertragen, und damit ist uns ein wunderschönes Bild entgangen, mit dem Paulus hier seine Wertschätzung für das Alte Testament ausdrückt: Paulus redet hier nämlich nicht von einer Binde, mit der die Augen verbunden werden. Sondern er redet von einer Decke, die über dem Alten Testament liegt, wenn es gelesen wird (2. Kor 3,14-15). Und er fügt hinzu, dass dort, im Alten Testament, das Herz Israels zu finden ist.

Woher nimmt Paulus dieses Bild? Er verweist in den Versen vorher auf die Geschichte von Mose, der eine Decke über sein Gesicht legte, weil es so erfüllt war von Gottes Glanz und Herrlichkeit, dass es für die Israeliten nicht zu ertragen gewesen wäre, ihn unverhüllt anzuschauen. Die Decke ist also kein Symbol für Blindheit oder verbundene Augen. Im Gegenteil, sie ist ein Bild für die unermessliche Herrlichkeit Gottes, die unter ihr verborgen liegt. Dieses Bild nun überträgt Paulus auf das Alte Testament: Hier liegt ein verborgener Schatz, der lange Zeit verhüllt war. Und weil Christus uns mit Gott versöhnt hat, können wir diese Decke nun lüften und der Herrlichkeit Gottes ins Angesicht schauen, ohne dass es uns das Leben kostet. Das Bild von der Decke ist also kein Symbol für die Blindheit der Juden oder die  Blindheit des Alten Testaments: Im Gegenteil, es zeigt den großen Wert, den das Alte Testament für Paulus hatte: Christus kam nicht, um das Alte Testament abzuschaffen, sondern im Gegenteil: Um den Schatz, der darin verborgen ist, für uns zugänglich zu machen.

Daher sollten wir als Christen mit Freude, Zuversicht und Begeisterung aus diesem Schatz schöpfen. Aber zugleich sollten wir keine Scheu haben, so wie Paulus, den Zugang zu diesem Schatz durch Christus zu suchen, der für uns den Weg zum Alten Testament geöffnet und ermöglicht hat. Eine Hermeneutik des ungekündigten Bundes nimmt beides Ernst: Die bleibende Bedeutung der Schriften des Alten Bundes für den christlichen Kanon, und die messianische Perspektive des Neuen Bundes, die uns den Zugang zu diesem alten Schatz neu erschließt.        

Erschienen in: Brennpunkt Gemeinde 6/2017, S. 219-222.

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