Tikkun Olam – Heilung der Welt

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Jüdische Ansätze zur Gesellschaftsveränderung

Abstract

Jesus verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes, und diese Botschaft hatte die Kraft, die Welt zu verändern. Der christlichen Kirche ist diese gesellschaftsverändernde Kraft des Evangeliums jedoch in ihrer Geschichte nicht immer in gleicher Weise bewusst geblieben. Gerade im evangelikalen Spektrum der modernen, westlichen Christenheit hat sich oft eine Gestalt des Evangeliums durchgesetzt, in der nicht die Veränderung der Gesellschaft, sondern die Flucht aus ihr das bestimmende Moment ist. Sozialethischen Dimensionen der Botschaft Jesu geraten dabei ebenso sehr in den Hintergrund wie der schöpferische Gestaltungsauftrag der Bibel. Ihre Wurzeln hat eine solche „weltvergessene“ Interpretation des Christentums oft in einer bewussten oder unbewussten Abwendung von den jüdischen Wurzeln des Glaubens und in einer weitgehenden Unkenntnis des jüdischen Kontextes des Neuen Testaments.

In der jüdischen Tradition sind hingegen Glaube und Gesellschaft, Diesseits und Jenseits, Spiritualität und Handeln eng miteinander verbunden, und ist eben diese jüdische Spiritualität der Weltverbundenheit, die auch die Botschaft des Neuen Testamentes prägt. Der folgende Beitrag spannt den Bogen von der Zeit Jesu bis in die Postmoderne und beleuchtet dabei verschiedene jüdische Antworten auf die Frage nach der gesellschaftsverändernden Kraft der biblischen Botschaft. Es zeigt sich, dass eine bessere Kenntnis der antiken jüdischen Welt Jesu uns auch aus manchen Einseitigkeiten des postmodernen westlichen Christentums herausführen kann.

Es gehört zu den spannenden Erfahrungen jedes Dialogs, dass man im anderen oft gerade das entdeckt, was man bei sich selbst vermisst. Auch im jüdisch-christlichen Gespräch ist diese Erfahrung nicht selten: Wenn Christen anfangen, die jüdische Welt des Neuen Testamentes besser zu verstehen, entdecken sie darin nicht selten Aspekte, die dem Christentum im Lauf der Jahrhunderte verloren gingen, weil es sich mehr und mehr von seinen jüdischen Ursprüngen entfernte. Und viele Christen sind überrascht, wenn sie dann bei den jüdischen Zeitgenossen Jesu (oder auch bei ihren eigenen jüdischen Zeitgenossen) genau die Werte und Überzeugungen entdecken, die sie selbst immer für genuin christlich hielten – oder die sie in ihrer eigenen christlichen Tradition seit langem schmerzlich vermisst haben.

Ihren Grund hat diese Überraschung oft in einer weitgehenden Unkenntnis des jüdischen Glaubens und Lebens. Wir sind groß geworden mit den vertrauten Klischees über Pharisäer und Schriftgelehrte, die wir in Predigten und Kinderstunden gehört haben. Diese haben aber oft wenig mit dem tatsächlichen Judentum zu tun. In der Schule haben wir dann vielleicht das jüdische Brauchtum und die jüdischen Feste kennengelernt, aber kaum je jüdische Denker und Philosophen der Gegenwart oder die Welt des Judentums in neutestamentlicher Zeit. So entwickeln wir oft unsere eigenen, christlichen Standpunkte im Kontrast zu einem selbst entworfenen Zerrbild des Judentums. Ohne dabei wissen, dass unsere oft als neuartig und revolutionär empfundenen Grundwerte oder Ideen ihre Wurzeln und Vorläufer bei eben jenen jüdischen Pharisäern und Schriftgelehrten haben, von denen wir uns so gerne distanzieren.

tikkun olam als Grundbegriff jüdischer Spiritualität

Ein Beispiel für solche jüdischen Grundwerte und Ideen ist etwa das Konzept einer Transformation der Gesellschaft durch das Reich Gottes, das ja auch für die Botschaft Jesu charakteristisch war. In der jüdischen Tradition ist dieses Konzept mit dem hebräischen Begriff tikkun olam verbunden. Es handelt sich dabei um einen schillernden Begriff, der sich auf ganz verschiedene Weise übersetzen lässt: „Heilung der Welt, Wiederherstellung der Welt, Zurechtbringung der Welt, Verbesserung der Welt.“ Der Begriff findet sich schon in den alten Schriften des rabbinischen Judentums, die in den ersten Jahrhunderten n.Chr. gesammelt und aufgeschrieben wurden. Aber er ist auch für viele aktuelle sozialethische Entwürfe des modernen und postmodernen Judentums zentral. Dass der Begriff tikkun olam durch viele Jahrhunderte hindurch diese zentrale Bedeutung entwickelt und behalten hat, liegt dabei sicher daran, dass er in Worten des täglichen Aleinu-Gebets erscheint, das nach jüdischer Tradition dreimal am Tag gebetet werden soll. Es stammt in seinen Grundzügen aus der Zeit des Neuen Testaments und kommt im jüdischen Gebetsleben an Bedeutung in etwa dem christlichen Vaterunser gleich. In diesem Gebet heißt es unter anderem:

 

„Im Himmel wie auf Erden ist keiner wie du!

Darum hoffen wir auf dich, Herr, unser Gott,

dass wir bald sehen werden, wie du die Götzen entfernst von der Erde,

wie du die Wahngebilde vernichtest,

um die Welt wieder herzustellen

durch die Königsherrschaft des Allmächtigen,

damit die ganze Menschheit deinen Namen anruft,

alle Übeltäter sich hinwenden zu dir, alle Bewohner der Erde dich erkennen,

jedes Knie sich beugt vor dir und jede Zunge dich bekennt.“

 

Die hier im täglichen Gebet formulierte Grundhoffung des Judentums auf eine Wiederherstellung oder Heilung der Welt (tikkun olam) durch das Offenbarwerden der Königsherrschaft Gottes gehört zu den prägenden ethischen Grundmaximen des Judentums. So formuliert etwa Jonathan Sacks, der bekannte orthodoxe Oberrabbiner des britischen Commonwealth:

Tikkun Olam – also die Welt zu vervollkommnen, zu bereiten oder auch zu reparieren: Das ist unsere Rolle als Juden, speziell als orthodoxe Juden, im Kontext der Gesellschaft, in der wir leben. […] Abraham lebte zwar Zeit seines Lebens mehr oder weniger abgesondert von seiner Umgebung. Aber er hatte doch offenbar einen gewissen Einfluss auf seine Umgebung, so dass sich seine Nachbarn am Ende seines Lebens an ihn wenden und sagen: „Du bist ein Fürst Gottes in unserer Mitte!“ (Gen 23,6).  Ähnlich war es auch bei Moses am Ende seines Lebens. Er sagte dem Volk Israel: Glaubt nicht, dass diese Tora, die ich euch heute gebe, nur für euch allein da ist, denn das ist sie nicht: „Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass, wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!“ (5.Mose 4:6).  Am einfachsten, aber auch am deutlichen formuliert es das Aleinu-Gebet: Nämlich als Verheissung und als Aufgabe: le-takken olam be-malkut shaddai – „aufzurichten die Welt unter der Königsherrschaft Gottes‘. Das ist die allerhöchste Aufgabe der jüdischen Geschichte, aber zugleich auch die schwerste. Und es ist vielleicht auch die paradoxeste Aufgabe, dass ausgerechnet wir, die wir doch als Volk ausgesondert leben und nicht zu den übrigen Völkern zählen, trotzdem ein Volk sein sollen, von dem gesagt wird: „Und alle Völker auf Erden werden sehen, dass über dir der Name des HERRN genannt ist.“ (5.Mose 28:10) Mit anderen Worten: Indem wir uns selbst zu einem Volk transformieren, transformieren wir die Welt. […]. Diese Aufgabe der tikkun olam liegt allerdings noch vor uns. […] Wenn wir ein jüdisches Leben führen, dann werden die Menschen um uns herum, mit denen wir zu tun haben, dadurch gesegnet. Und am Ende werden sie zu uns kommen und sagen: „Du warst ein Fürst oder eine Fürstin Gottes in unserer Mitte!“ Tut das, und es wird der Beginn für die Heilung der Welt sein, für tikkun olam.“ (Sacks 1997)

Ganz ähnlich klingt das Urteil eines führenden Vertreters des deutschen liberalen Judentums, Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs. Das ist um so bemerkenswerter, als es zwischen den orthodoxen und liberalen Flügeln des Judentums in vielen Fragen sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Im Blick auf die jüdische Berufung zur Mitgestaltung herrscht hier jedoch Einigkeit:

„Das liberale Judentum  verpflichtet sich zu einem konstruktiven Anderssein innerhalb der Gesellschaft und zur Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen. Früher waren das Fragen wie die Gleichberechtigung der Frau oder die Liturgiereform. Zurzeit sind das Fragen wie die Unterstützung der Opfer von Darfur oder der Umgang mit der Genforschung. Unsere Stärke ist unsere Dialogfähigkeit. […] Die Frage „Wer bin ich?“ kann nur in Zusammenhang mit der Frage „Wer ist der andere?“ beantwortet werden. Uns verpflichtet Leo Baecks Verständnis des ethischen Monotheismus als gesellschaftlicher Auftrag für die Gegenwart. Das bedeutet tikkun ha’olam, Bewahrung der Schöpfung, Heilung der Welt  und Hinwendung zum Nächsten, zum Leben: „Das Leben zu wählen und zu gestalten, das ist die Forderung, die das Judentum an den Menschen richtet.“ (Homolka 2007)

Die Ursprünge des Konzeptes

Die älteste Quelle für den Gebrauch des Begriffes tikkun olam, neben dem ebenfalls sehr alten Aleinu-Gebet, ist die Mischna, eine Sammlung von mündlich überlieferten Gesetzen, die gegen Ende des zweiten Jahrhunderts n.Chr. von den jüdischen Rabbinen zusammengestellt wurde. Trotz dieser relativ späten Entstehungszeit enthält die Mischna jedoch viele Überlieferungen, die auch in die Zeit Jesu und sogar in vorchristliche Zeit zurückreichen, und die vor allem in Kreisen der Pharisäer und Schriftgelehrten von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Der Begriff tikkun olam zum Beispiel scheint auf Rabbi Gamaliel den Älteren zurückzugehen, einen Zeitgenossen Jesu, bei dem auch Paulus studierte (vgl. Apg. 22,3 und Apg. 5,34-42). Wir wissen nur wenig über diesen Lehrer, aber die wenigen Überlieferungen, die von ihm erhalten sind, deuten darauf hin, dass er darum bemüht war, Gesetzestreue und Weltoffenheit miteinander zu verbinden. So überwand er etwa die traditionellen Animositäten zwischen Pharisäern und Sadduzäern, in dem er, selbst ein Pharisäer, seiner Tochter die Hochzeit mit einem Sadduzäer erlaubte. Auch sein weiser Rat, von dem die Apostelgeschichte berichtet, zeugt von dem Bemühen, Gottes Willen treu zu bleiben und dennoch auch offen zu sein für Andersdenkende. Und schließlich verrät auch die Theologie des Paulus, die von Treue zur Schrift und gleichzeitiger Öffnung für die Völkerwelt geprägt ist, vermutlich eine Prägung durch Gamaliel. Ein wichtiger Wahlspruch Gamaliels lautete: „Schön ist es, wenn das Studium der Tora mit dem Wandel der Welt verbunden wird (also mit der weltlichen Alltagsrealität)“ (Sprüche der Väter 2,2).

Genau diese Verbindung von Gesetzestreue und Alltagswelt zeigt sich nun auch in dem Rechtsprinzip tikkun olam, das von Gamaliel eingeführt wurde, um schwierige Rechtsfragen zu klären, die sich aus dem dem Alltagsleben des jüdischen Volkes im Kontext von nichtjüdischen Gesellschaften ergaben. Gamaliel argumentiert, dass sich Juden in solchen Fällen nicht allein an den rechtlichen Vorschriften der Bibel orientieren sollten, sondern an der Frage, was dem Wohl der Allgemeinheit und der Gesellschaft dient, also der „Besserung der Welt“. Dieses neue Rechtsprinzip wird etwa bei schwierigen Scheidungsfällen angewendet, um die Rechte der Frauen zu stärken. Aber auch beim Verkauf von Sklaven, um deren Rechte zu stärken, und ebenso auch bei der Auslösung von Kriegsgefangenen zu einem fairen Preis (Mischna Gittin 4,2-7). Diese ethischen Richtlinien hatten zwar keine eigentliche Begründung in biblischen Geboten, sie werden aber begründet mit dem allgemeinen Auftrag des Menschen bzw. des jüdischen Volkes, zur Verbesserung und Heilung der Welt beizutragen. Diese rechtliche Neuerung des Gamaliel, verbunden mit der Grundhoffung des Aleinu-Gebetes, bildete dann im weiteren Verlauf der Geschichte die Grundlage für das jüdische Verhältnis zur Gesellschaft und zur nichtjüdischen Welt als Ganzes. Denn es ist genau diese Spannung zwischen einer erkennbaren jüdischen Identität und einer gleichzeitigen Weltzugewandtheit (vgl. Gamaliels Prinzip „Tora mit weltlichem Wandel“), die die jüdische Sozialethik charakterisiert.

Spannungsfeld Gesellschaft: Heimisch in fremder Umgebung

Die beiden eingangs erwähnten jüdischen Stimmen, die des orthodoxen britischen Oberrabbiners wie des liberalen deutschen Professors, bringen beide den Begriff tikkun olam in Zusammenhang mit eben diesem Spannungsverhältnis zwischen jüdischem Volk und nichtjüdischer Welt, zwischen Gemeinde und Gesellschaft, zwischen Bindung an die Tora und Einmischung in den Wandel der Welt. Dieses Spannungsverhältnis prägte die Geschichte des jüdischen Volkes angefangen von Abraham, der als Gast ein fremdes Land durchwanderte, über Moses, der als Sklave und als Prinz unter Ägyptern lebte, über die Erfahrungen des babylonischen Exils und der Zerstreuung im römischen Reich bis hin zur weltweiten Diaspora der Moderne: Immer war man Teil einer fremden Gesellschaft und gehörte dieser doch nicht völlig an. Immer war man aufgerufen, mitzugestalten, aber doch nicht alles mitzumachen. Diese Grundspannung fand ihren Niederschlag auch im christlichen Selbstverständnis, „in der Welt, aber nicht von der Welt“ zu sein, auch wenn Jesus selbst das so nie formuliert hat. Aber auch die Ansicht des Pharisäers Paulus steht dieser jüdischen Haltung sehr nahe: „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes.“ (Römer 12,2: Zürcher Übersetzung).

Die jüdische Tradition sucht diese beiden Pole zusammenzuhalten: Einerseits versteht sich das Volk Israel als ein erwähltes, herausgerufenes und zu Gott gehöriges Volk, das sich unterscheidet von seiner Umgebung. Und dennoch hat es überall dort, wo es ist, den Auftrag zur Mitgestaltung, ja sogar entscheidenden Umgestaltung der Welt: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“ (Jes. 49,6: Einheitsübersetzung). Die klassischen Zerrbilder des Judentums haben stets beide Pole dieses Spannungsfeldes ins Negative gewandt: Da war auf der einen Seite das Klischee vom abgesonderten Volk, das sich der Gesellschaft und Kultur verweigert und sich exklusivistisch gegen alles Fremde abschottet. Und auf der anderen Seite das Klischee von der jüdischen Weltverschwörung, die durch Medien, Banken und Politik den Lauf der ganzen Welt zu steuern versucht. Nur selten fällt dabei auf, dass beide Unterstellungen in einem diametralen Gegensatz zueinander stehen. Ein genauer Blick auf die jüdischen Überzeugungen zeigt jedoch, dass eine feine Balance zwischen Andersartigkeit und Anteilnahme, zwischen Kulturschaffen und Kulturkritik schon in biblischer und neutestamentlicher Zeit, dann aber auch bis in die Moderne hinein charakteristisch war für das Verhältnis des Judentums zu den Gesellschaften, in denen es lebt.

Moderne jüdische Antworten

Rabbi Joseph Soloveitchik (1903-1993), orthodoxer Rabbiner und einer der führenden jüdischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, beschrieb diese Balance in seinem berühmt gewordenen Essay „Confrontation“, mit dem er 1964 auf das katholische Dokument „Nostra Aetate“ antwortete. Dieses Dokument gilt als Meilenstein des christlich-jüdischen Dialogs, und es wurde seinerzeit als wichtiges Signal der Annäherung zwischen beiden Religionen gesehen. Um so überraschender kam für viele die ungewöhnlich schroffe Antwort Soloveitchiks, der die ausgestreckte Hand des christlichen Dialogpartners nur sehr zögerlich annahm und stattdessen die Grenzen der Annäherung deutlich markierte, ohne sich jedoch dem Dialog zu verweigern. Er gebrauchte dabei das Bild der vorsichtigen Begegnung zwischen Jakob und Esau (Gen 32,18-20), um das Verhältnis des jüdischen Volkes zu seiner nichtjüdischen Umwelt zu beschreiben.

„Unsere Beziehung zur Welt um uns herum hatte schon immer einen ambivalenten Charakter: Intrinsisch antithetisch, manchmal sogar ans Paradoxe grenzend. Wir suchen die Beziehung zur Welt Esaus, und ziehen uns doch gleichzeitig aus ihr zurück, wir kommen ihr nahe und gehen doch gleichzeitig auf Distanz. Wenn der Prozess der Annäherung gerade zustande kommt, beginnen wir sofort wieder, uns zu entziehen. Wir arbeiten mit Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften zusammen in allen Bereichen menschlicher Bemühungen, aber zugleich mit unserer Integration in das allgemeine soziale Netzwerk bewegen wir uns doch auch wieder zurück und bremsen unsere Schritte. In einem Wort: Wir gehören zur menschlichen Gesellschaft und fühlen uns doch gleichzeitig als Fremde und Außenseiter. Wir sind verwurzelt im hier und jetzt als Bewohner dieses Planeten, und doch erleben wir auch das Gefühl von Heimatlosigkeit und Einsamkeit, so als gehörten wir anderswo hin. Wir sind sowohl Realisten als auch Träumer, klug und pragmatisch auf der einen Seite, Visionäre und Idealisten auf der anderen. Natürlich beteiligen wir uns an der kulturellen Anstrengung, und doch gehören wir auch einer anderen Erfahrungsdimension an. Schon unser Stammvater hat sich selbst mit den Worten beschrieben: „Ich bin ein Fremder und Mitbewohner unter euch“. Geht das überhaupt beides?“ (Soloveitchik 1964)

Soloveitchiks Konzept einer aktiven Zuwendung zur Welt, bei gleichzeitiger Abgrenzung und Verwurzelung außerhalb dieser Welt, hat seine Vorbilder in der Bewegung des neo-orthodoxen Judentums im 19. Jahrhunderts. In Deutschland standen die jüdischen Gemeinden in dieser Epoche vor der existentiellen Alternative zwischen völliger Assimilation und völliger Separation: Sollte man die eigenständige jüdische Identität endgültig aufgeben und sich ganz und gar in die deutsche Gesellschaft eingliedern? Die Lebenswege prominenter Künstler wie Felix Mendelssohn-Bartholdy  (1809-1847) oder Heinrich Heine (1797-1856), die beide zum Christentum übertraten, schienen dies nahezulegen. Oder sollte man gerade umgekehrt in die völlige Absonderung gehen, wie sie vor allem im orthodoxen Judentum Osteuropas praktiziert wurde? Samson Raphael Hirsch (1808-1888), Rabbiner in Frankfurt und Gründervater des orthodoxen Judentums in Deutschland, knüpfte in dieser Zeit an die bereits erwähnte Formel des Gamaliel an: „Treue zur Tora, verbunden mit dem Wandel der Welt“. Für Hirsch hieß das: Ein aktives jüdisches Engagement auf den „Wegen der Welt“, also in der Gesellschaft und für die Gesellschaft. Aber eines, das sich nicht einfach assimiliert, sondern seine Kraft und Identität gerade aus der Andersartigkeit und aus der Bindung an die Tora bezieht. Er schreibt:

„Mit  Gesinnung und Tat gehöre jeder Einzelne seiner Gemeinde an. Mit Gesinnung: dass ihn der Gemeinsinn beseele, der das allgemeine Beste wie das Eigene beherzigt; der, wenn es gilt, das Eigene dem Allgemeinen aufopfert; dem es nicht gleichgültig ist, ob die Anstalten, Einrichtungen und Angelegenheiten des Gemeinwesens blühen oder nicht, wenn ihm auch persönlich kein Nutzen daraus flösse; dem es nicht gleichgültig ist, ob die Gemeinde ihre Aufgabe löst, Trägerin des Heiligsten zu sein oder nicht. Es hat das Gemeinwesen keinen größeren Feind als jene Gleichgültig- und Engherzigkeit, die nur für Einzelwohl, größtenteils nur für das Eigene, und nur für das Nächste Sinn hat, die sich überall fragt: „Was nützt es mir, was schadet es mir?“; die drum nicht freudig weiß den Stein zu einem Bau zu tragen, an den alle, und nicht nur sie, an den die späteren Enkel, wenn gleich nicht die Gegenwart, ihr Leben sicher lehnen werden. Ein Sinn, erfüllt von der großen Aufgabe des Gemeinwesens, ein Sinn der Wahrheit, des Rechts und des Friedens, ein Sinn der Gemeinde-Ehre, der stolz darauf ist, wenn das Gemeinwesen blühet, ein Sinn, der sich selbst in den Gemeindevertretern und in jedem Bemühen ums Gemeinwohl achtet, und jeder das Gemeinwohl fördernden Anordnung gerne sich fügt. Das ist der Sinn, der dann auch jeden Einzelnen gern und freudig an Tat zu leisten spornt, was das Gemeinwesen fordert.“ (Hirsch 1837:610-611)

Die unfertige  Schöpfung als bleibender Auftrag

Die biblische Begründung für den gesellschaftlichen Auftrag des Judentums fand Hirsch schon auf den ersten Seiten der Bibel. Nach einer alten jüdischen Auslegungstradition zum Schöpfungsbericht ruhte Gott am siebten Tag der Schöpfung, um die Vollendung der Welt von diesem Punkt an dem Menschen zu überlassen. In einer für den rabbinischen Umgang mit Bibeltexten sehr typischen Weise wird dabei ein ungewöhnlicher Wortlaut des Bibeltextes als Anlass genommen, nach dem tieferen Sinn dieses Wortlauts zu fragen. In 1. Mose 2,3 heißt es nämlich:

„Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“ (1. Mose 2,3: Luther)

Luther hat hier das Ende des Satzes etwas ungenau übersetzt. Eine genauere Übersetzung würde lauten „von allen seinen Werken, die Gott geschaffen hatte, damit er es machte“. Die Elberfelder Übersetzung lautet: „… indem er es machte“, die Schlachter Übersetzung „…als er es machte“, und die Zürcher Bibel „durch sein Tun“. Im Hebräischen steht hier jedoch ein Partikel, der den Zweck ausdrückt, also „um zu tun“ oder „damit er es täte“. Hier setzen die Rabbinen der ersten Jahrhunderte an und fragen: Wer soll hier eigentlich etwas machen? Vielleicht steckt in diesen Worten ja bereits der Auftrag Gottes an den Menschen, die  Welt weiter zu gestalten und zur Vollendung zu bringen. Gott ruhte, damit der Mensch nun das Werk weiterführen kann. So legt etwa Rabbi Pinehas (4. Jh. n.Chr.) diesen Vers aus:

„Es steht geschrieben: „Denn an ihm [am Sabbat] ruhte Gott von all seinen Werken die er geschaffen hatte, um zu tun“ (Gen 2,3). Also ruhte er zwar von der Arbeit an seiner Welt, aber er ruhte nicht von seiner Arbeit an den Gerechten und an den Frevlern. Denn er arbeitet ja mit beiden, mit diesen und mit jenen. Er zeigt diesen ihren wirklichen Charakter, und auch jenen ihren wirklichen Charakter.“ (Midrasch Rabba 11,10 zu 1. Mose 2,3)

In der spätmittelalterlichen jüdischen Mystik wurde dieser Gedanke dann noch weiterentwickelt: So ging der kabbalistische Lehrer Isaak Luria (1534-1572) davon aus, dass Gott die Schöpfung ganz bewusst unvollendet ließ, um so dem Menschen Raum zur Entfaltung und zur Gestaltung zu geben. Durch den Fall Adams jedoch blieb die Welt unfertig, und seitdem hat die Menschheit den Auftrag, die unfertige bzw. gefallene Welt wieder zurecht zu bringen bzw. zu heilen. Luria war es auch, der den traditionellen Begriff tikkun olam in diesen neuen, universaleren Zusammenhang von Schöpfungsauftrag und Erlösungswerk einführte. Hieran knüpfte dann Samson Raphael Hirsch im 19. Jahrhundert an und entwickelte daraus Ansätze zu einer modernen jüdischen Sozialethik:

„Da vollendete Gott mit dem siebten Tage sein Werk, das er gemacht hatte, und hörte mit dem siebten Tage von jeglichem seiner Werke, das er gemacht hatte, auf. Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn; denn mit ihm hatte er von allem seinem Werke aufgehört, welches Er, Gott, ins Dasein gesetzt hatte, es fort zu gestalten […]“ (Gen. 2,2-3). Gott segnete also den siebten Tag und heiligte ihn, gab ihm die Kraft, die geistige und sittliche Erziehung des Menschengeschlechtes zu vollbringen und stellte diese Erziehung als das absolut Siegreiche, gegen alle Trübung und Vergänglichkeit unantastbar Gesicherte hin. Warum? Weil er ja mit diesem Erziehungsmittel der Menschheit von allen seinen Werken aufgehört hatte, weil es das Letzte, und seine Bestimmung ja das Ziel der ganzen geschaffenen Erdwelt ist, und Gott ja diese Erdwelt von vornherein ins Dasein gerufen hat, um dieses Ziel herbeizuführen. Wäre der Mensch unfrei wie die übrigen Geschöpfe,  es wäre das Gotteswerk mit dem sechsten Tag abgeschlossen. Weil aber der Mensch frei geschaffen, und diese ihn selbst über die Engel erhebende Freiheit notwendig auch die Möglichkeit des Irrtums und der Verirrung bedingt, der Mensch vielmehr zur freien Anerkenntnis des Wahren und freien Übung des Guten erst heranerzogen werden soll: so ist nun freilich Gottes Werk in der Natur geschlossen, allein sein Wirken in der Geschichte des Menschen und die Fortgestaltung der natürlichen Verhältnisse für dieses Erziehungsmittel seines Waltens in der Menschheit hat eben damit begonnen“. (Hirsch 1883:47)

Auch Soloveitchik knüpft gut ein halbes Jahrhundert später an diesen Gedanken an. Allerdings findet bei ihm eine weitere Verlagerung des Schwerpunktes statt: War bei Hirsch noch der Mensch als Teil der unvollendeten Schöpfung und als Objekt des göttlichen Erziehungshandelns im Blick, so rückt bei Soloveitchik die Übertragung der Schöpfungsaufgabe und der Vollendung der Schöpfung (tikkun olam) an den Menschen als Subjekt in den Vordergrund:

„Der Gipfel religiöser ethischer Vollkommenheit, den das Judentum anstrebt, ist der Mensch als Schöpfungshandelnder. Als Gott die Welt erschuf, gab er damit dem Objekt seiner Schöpfung, dem Menschen, eine Gelegenheit, an der Schöpfung mitzuwirken. Der Schöpfer hat sozusagen die geschaffene Wirklichkeit unvollkommen gelassen, damit der Mensch ihre Unvollkommenheit heilen könnte und die Welt so vervollkommnen könnte“ (Soloveitchik 1944/1983:101)

Alter Begriff in neuen Gewändern

Der Begriff tikkun olam hat also in der jüdischen Überlieferung durch die Jahrhunderte einen gewissen Wandel erlebt: Am Anfang stand die religiöse Hoffnung einer Wiederherstellung und Heilung der Welt durch die Königsherrschaft Gottes (Aleinu-Gebet) und die Erweiterung jüdischer Gebote im Kontext nichtjüdischer Gesellschaften durch das Prinzip des Allgemeinwohls (Rabbi Gamaliel). In der Lehre des Isaak Luria wurde tikkun olam dann zu einem ganz grundsätzlichen Begriff für den Auftrag des Menschen zur Wiederherstellung der gefallenen Schöpfung. Samson Raphael Hirsch und Joseph Soloveitchik wandten dieses Konzept schließlich auf die konkrete gesellschaftliche Realität des 19. und 20. Jahrhunderts an und verstanden tikkun olam als Auftrag zur Mitgestaltung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung der jüdischen Identität und Eigenart. In der heutigen Diskussion ist tikkun olam zu einem allgemeinen und verbreiteten Sammelbegriff für eine jüdische Spiritualität der Weltverantwortung und Gesellschaftsethik geworden. Dabei wird der Begriff auf immer neue Felder der ethischen und gesellschaftlichen Diskussion ausgeweitet. So forderte etwa Abraham Jehoshua Heschel (1907-1972), neben Soloveitchik ein weiterer großer jüdischer Philosoph und politischer Aktivist des 20. Jahrhunderts, die traditionellen jüdischen Koschergesetze nicht nur auf den privaten Bereich der Speisevorschriften, sondern eben auch auf die internationalen Finanzmärkte anzuwenden:

“Ich bin sehr dankbar dafür, dass in offiziellen Institutionen und Hotels die Kaschrut-Gesetze eingehalten werden. Aber was mich schmerzt, ist die Frage: Warum stehen nur die Metzgereien unter religiöser Aufsicht? Warum bestehen wir nicht darauf, dass auch Banken, Fabriken und Immobilienmakler einen koscher-Stempel erhalten und entsprechend den religiösen Gesetzen betrieben werden? Wenn man in einem Ei einen Tropfen Blut findet, dann wäre es für uns unvorstellbar, es noch zu essen. Aber oft ist mehr als ein Tropfen Blut in einem Dollar oder einem Lire, aber wir versäumen es am laufenden Band, diese Leute an die Überlieferungen unserer Lehrer zu erinnern.“ (Kaplan 2007:361)

In einem Leitartikel der Jerusalem Post vom März 2010 entdeckt der Unternehmensberater und Autor David Sarna sogar im modernen Konzept des concious capitalism, das durch den Friedensnobelpreisträger Mohammed Yunus weltweite Bekanntheit erlangte, eine zeitgemäße Ausdrucksform überlieferter jüdischer Grundwerte:

Concious Capitalism gehört heute zu den heiß diskutierten Ideen im Wirtschaftsleben. Sein hebräisches Äquivalent, tikkun olam, ist allerdings schon vor langer Zeit entstanden: tikkun olam bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für das materielle, moralische und geistliche Wohlergehen der weiteren Gesellschaft. Daran wird deutlich, dass das Gebot zu einem „bewussten Kapitalismus“, etwa für Mechanismen wie Mikrokredite, Arbeitsplatzbeschaffung, Ausbildungsförderung und Hilfe zur Gründung von Kleinunternehmen bereits seit über zwei Jahrtausenden im jüdischen Recht vorgesehen, kodifiziert und auch praktiziert worden ist. Der Begriff tikkun olam bezeichnet dabei Rechtsnormen, die zwar nicht durch biblische Gebote vorgeschrieben sind, aber dennoch durch die Rabbinen beschlossen wurden, weil sie für das Gelingen des öffentlichen Lebens notwendig waren, oder, wie sie es in ihrem eigenen Idiom ausdrückten, ‚um die Welt zu einem besseren Ort zu machen‘“. (Sarna 2010)

Christliche Missverständnisse und Engführungen

Ein Blick auf jüdische Ansätze zur Gesellschaftsveränderung hat gezeigt, dass der Auftrag zu einer bewussten Mitgestaltung und Umgestaltung der Gesellschaft durch die Normen der Königsherrschaft Gottes seit alters her zu den Grundideen jüdischer Spiritualität und Ethik gehört. Um so erstaunlicher ist es jedoch, dass in manchen Kreisen der christlichen Kirche, insbesondere in bestimmten Teilen der  neuzeitlichen evangelikalen Bewegung, diese Perspektive der Weltverantwortung und der Auftrag zur Gesellschaftsveränderung über lange Zeit fast vollkommen in Vergessenheit geriet. Ja, noch mehr als das: Sie wurde sogar manchmal als eine gefährliche Irrlehre angesehen, die den Christen vom „Eigentlichen“, also von der persönlichen Bekehrung und von der Verkündigung des Evangeliums, anhält. Ein Christ, so heißt es dann, soll sich nicht um die Verbesserung, Heilung oder Wiederherstellung der Welt bemühen, sondern er soll dieser Welt den Rücken kehren und sich der himmlischen und zukünftigen Welt zuwenden.

Solche Überzeugungen konnten nur dort Raum gewinnen, wo das geistliche Erbe des Judentums in der christlichen Kirche entweder völlig in Vergessenheit geriet – oder sogar ganz bewusst bekämpft wurde! Denn darin besteht ja die tragische Ironie der christlich-jüdischen Geschichte: In der Überzeugung, sich vom Judentum abgrenzen zu müssen, hat man sich oft genau von den geistlichen Wurzeln getrennt, aus denen man sich eigentlich hätte nähren können.

Dies gilt in besondere Weise für den hier beschriebenen Bereich der weltzugewandten Spiritualität: In der jüdischen Tradition hätte die christliche Kirche schon früh einen uralten und tief verwurzelten Impuls für eine Ethik der Gesellschaftsveränderung finden können. Statt dessen hat sie sich immer wieder von diesen Wurzeln losgesagt und sich in manch einen Irrweg verrannt, der die Spannung zwischen „in der Welt“ und „nicht von der Welt“ in die eine oder andere Richtung auflöste. So behauptete bereits im 4. Jahrhundert der Kirchenvater Eusebius, die Welt sei mit der Ankunft des christlichen römischen Reiches bereits vollkommen. Sein Zeitgenosse Laktanz dagegen war überzeugt, dass die vollkommene Welt nur durch einen zukünftigen apokalyptischen Weltuntergang zu erwarten sei. Einig waren sich aber beide darin, dass es keine christliche Verantwortung zur Umgestaltung der bestehenden Welt gibt. Beide Extreme, die kritiklose Akzeptanz der bestehenden Welt und das tatenlose Warten auf eine kommende, finden sich bis heute an den Rändern der Kirche. Natürlich gab es dazwischen immer auch einen breiten christlichen „Mainstream“, der an der alten jüdischen Hoffnung einer Veränderung der Welt durch das Reich Gottes festhielt, angefangen von Paulus, über Augustinus, Benedikt, Calvin, Francke, Wilberforce und Kolping bis hin zu den verschiedenen sozialethischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Aber die Tatsache, dass das Wissen um die christliche Weltverantwortung links und rechts dieses „Mainstreams“ immer wieder auch verloren ging, und zwar gerade in der neuzeitlichen evangelikalen Welt, die sich doch besonders bibelnah und dem Judentum verbunden wähnt, muss doch zu denken geben. Die tiefere Ursache liegt vermutlich darin, dass man gerade hier allzu oft gegen selbst erdachte Klischees des Judentums angekämpft hat, und die eigenen Einseitigkeiten oft erst in Auseinandersetzung und Abgrenzung gegen diese Klischees entstanden sind. Einige konkrete Beispiele für solche Einseitigkeiten möchte ich daher kurz benennen.

Das Klischee vom „gesetzlichen“ Judentum und das „gesetzesfreie“ Christentum

Aus christlicher Sicht ist das Judentum eine „gesetzliche“ Religion. Und das ist meistens als Vorwurf gemeint. Man unterstellt den Juden, sich engstirnig und ängstlich an Gesetze zu halten, während Christen stets nur in Freiheit und Freude „gute Regeln“ Gottes einhalten. Worin genau der Unterschied zwischen „Gesetzen“ und „Regeln“ besteht, vermag man aber oft gar nicht zu sagen. Vielleicht darin, das letztere nicht eingehalten werden müssen, oder nur ein wenig? Man unterstellt Juden aber auch, dass sie sich durch das Halten des Gesetzes den Himmel verdienen wollen, während Christen ja wissen, dass das gar nicht geht, weil Gott allein aus Gnade rettet. Übersehen wird dabei, dass das Konzept der Gnade im Alten wie im Neuen Testament gleichermaßen zu finden ist, also durchaus keine „christliche“ Erfindung ist. Wenn allerdings das Klischee eines „gesetzlichen“ Judentums erst einmal gezeichnet ist, dann muss das christliche Gegenbild natürlich „gesetzesfrei“ sein. Das Evangelium lautet also: Gott hat dich lieb und nimmt dich an, ganz egal was du tust. Dein praktisches Leben, dein Handeln und auch dein Verhalten in der Gesellschaft haben keine Relevanz, zumindest keine „Heilsbedeutung“. Es ist letztlich egal, ob du dein Essen fair oder unfair einkaufst, ob du dich um die Armen kümmerst oder nicht, denn für den Eintritt in den Himmel spielt das keine Rolle. Im Gegenteil, es könnte dich sogar in die Gefahr führen, dir auf deine guten Taten etwas einzubilden und dich auf sie zu verlassen anstatt auf die Gnade Gottes.

Am Ende dieses Weges steht letztlich ein Christentum ohne Ethik. Ein Auftrag zur Weltveränderung und Wiederherstellung der Welt, wie er für das jüdische Menschenbild und die jüdische Heilserwartung so zentral ist, wird dann zu einer „Nebensache“, theologisch ausgedrückt zum „Adiaphoron“, ja vielleicht sogar zu einer Gefahr. Der christliche Wunsch nach Abgrenzung zum „gesetzlichen“ Judentum ist also letztlich ein ethisches Eigentor. Er ist aber ein völlig unnötiges Eigentor, denn ein unvoreingenommener Blick in die jüdischen Quellen der Antike und die jüdischen Ansätze der Gegenwart zeigt, dass Juden sich (ebenso wie wir Christen) nicht nur aus Angst und Engstirnigkeit an Gottes Gebote halten, sondern aus Liebe, und weil sie darin (ebenso wie wir Christen) Gottes guten Willen zur Heilung der Welt erkennen.

„Vielleicht sagst du: Ich lerne darum Tora, weil ich reich werden will. Oder weil ich Rabbi genannt werde. Oder weil ich Lohn in der kommenden Welt dafür erhalte. Die Schrift lehrt aber: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben! (Dtn. 6,5). Daher sollt ihr alles, was ihr tut, aus Liebe zu Gott tun!“ (Sifre Devarim 41 zu Dtn. 11,13)

„Die Worte der Tora sind mit einer Arznei zu vergleichen, die man auf eine Wunde legt. Es ist wie mit einem König, der im Zorn seinen Sohn schlug. Sogleich gab er ihm einen Verband und legte ihn auf die Wunde, damit sie heilen konnte. Und der König sagte: Mein Sohn, solange dieser Verband auf deiner Wunde liegt, wirst du keinen Schaden nehmen. Wenn du ihn aber abnimmst, dann wird sich die Wunde entzünden. Genau so sagte Gott, der Herr, auch zu Israel: Meine Kinder, ich habe in euch den Hang zum Bösen mit erschaffen. Aber wenn ihr euch mit der Tora beschäftigt, dann kann er nicht über euch herrschen. Wenn ihr euch aber von den Worten der Tora trennt, dann herrscht er über euch (vgl. Gen. 4,7).“ (Sifre Devarim zu Dtn. 11,18)

Der Blick in die Quellen zeigt auch, dass Juden eben nicht (ebenso wenig wie wir Christen) glauben, dass man sich durch gute Werke den Himmel verdient, sondern dass Gottes Gnade allem menschlichen Tun vorausgeht. Aber sie glauben auch (ebenso wie wir Christen), dass gute Werke ein Ausdruck der Dankbarkeit für diese Gnade sein können und dass wir für unsere guten Werke himmlischen Lohn empfangen werden.

Das Klischee vom „äußerlichen“ Judentum und das „innerliche“ Christentum

Ein weiteres Klischee vom Judentum, das oft und gerne in Predigten und Bibelauslegungen gezeichnet wird, verstellt uns in gleicher Weise den Blick für das gesellschaftsverändernde Potential der jüdischen Spiritualität. Es ist das Klischee von der „veräußerlichten“ Religion. Im Judentum, so sagt das Klischee, macht sich der Glaube an Äußerlichkeiten fest. An Ritualen, Institutionen, Verhaltensweisen und an materiellen Dingen. Bei Jesus dagegen geht es um das Innere. Das Judentum klammert sich an das Diesseits, im Christentum geht es um das Jenseits, die geistliche Welt oder die Haltung des Herzens. Auch hier führt das Klischee des Judentums zu einem Gegenentwurf des Christentums, der an Äußerlichkeiten und Institutionen nicht interessiert ist. Ein solches Christentum wird aber auch an der Veränderung der Gesellschaft nicht interessiert sein, denn eine Gesellschaft existiert nun einmal im Diesseits und in der wirklichen, äußerlichen Welt. Materielle Armut ist für ein solches Christentum nicht relevant, weil es Jesus nur um „geistliche“ Armut geht. Eine Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Realitäten ist nicht wichtig, denn Veränderung geschieht allein im Kopf und im Herzen. Auch hier beraubt uns der Wunsch nach einer Abgrenzung vom Judentum letztlich der Grundlagen für eine wirklich weltzugewandte Spiritualität. Um so tragischer ist das, weil das Klischee auch hier gar nicht der jüdischen Wirklichkeit entspricht. Denn auch im Judentum ist (wie bei uns Christen) die Spiritualität zuerst im Inneren des Menschen verankert, wie etwa der folgende Ausspruch von Rabbi Simon (2. Jh.) zeigt:

„Rabbi Simon sagte: Sei aufmerksam und genau beim Lesen des »Höre Israel« und beim Achtzehngebet. Wenn du betest, mache dein Gebet nicht zu etwas Äußerlichem, sondern bete mit Inbrunst und Flehen vor Gott.“ (Mischna Avot, 2,13)

Inneres und Äußeres werden aber im Judentum nicht, wie oft bei uns, voneinander getrennt. Ein innerlich ernst gemeintes Gebet kann eben auch durch äußere Gesten ausgedrückt werden. Der Mensch besteht aus Gottes Geist und aus Lehm. Die Gegenwart Gottes zeigt sich im Heiligen Geist und in einem Tempel aus Stein und Holz. Gott schreibt reale Geschichte durch ein historisches Volk in einem Land mit geographischer Ausdehnung. Das alles aber glaubten nicht nur Juden, sondern auch die ersten Christen. Und sie glaubten sogar, dass Gott selbst ein Mensch aus Fleisch und Blut wurde. Mehr „Äußerlichkeit“ also, als den meisten Juden damals lieb war. Erst später, als sich das Christentum mehr und mehr von seinen jüdischen Wurzeln löste, rückte auch die Spiritualität der Diesseitigkeit in den Hintergrund und geriet in manchen Strömungen des Christentums vollends in Vergessenheit. Eine Rückkehr zu den jüdischen Wurzeln unseres Glaubens kann uns also auch hier zur Wiederentdeckung einer gesellschaftsrelevanten Spiritualität verhelfen.

Das Klischee vom „politischen Messias“ und das „unpolitische“ Christentum

Auch das Klischee von der „politischen Messiaserwartung“ des Judentums hat dazu beigetragen, dass Christen sich von politischen und gesellschaftlichen Dimensionen des Glaubens distanziert haben. Dieses Klischee besagt, dass die Juden zur Zeit Jesu einen Messias erwarteten, der die Römer aus dem Land vertreibt und in Jerusalem ein irdisches Königreich nach dem Vorbild des davidischen Königreiches aufrichtet. Jesus aber habe diesen Erwartungen nicht entsprochen. Weder hat er die Römer vertrieben noch hat er ein politisches Königreich aufgerichtet. Stattdessen starb er am Kreuz für unsere Sünden und richtete ein weltumfassendes, durch neue Maßstäbe definiertes Königreich der Herzen auf, zu dem nicht nur die Juden, sondern alle Völker eingeladen waren. Natürlich hat dieses christliche Beharren auf dem „unpolitischen“ Wesen des Messias und seines Reiches langfristig dazu geführt, dass die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen des Reiches Gottes vernachlässigt oder sogar bewusst verdrängt wurden. Man wollte ja nicht dem gleichen Irrtum wie die Juden verfallen, dass der Messias ein irdisches Reich bauen will.

Das Problem dieses Klischees, wie auch der anderen, ist jedoch, dass es keinen Anhalt in der Wirklichkeit hat. Es gibt keine jüdischen Quellen aus der Zeit Jesu, die von einem jüdischen Hass gegen die Römer sprechen oder von der Erwartung, dass der Messias die Römer aus dem Land vertreiben müsste oder dass er ein rein politisches, lokal begrenztes jüdisches Königreich aufrichten werde. Ganz im Gegenteil: Schon die prophetischen Texte des Alten Testaments, auf den sich die messianischen Hoffnungen und Erwartungen stützen, sprechen von einem König, dessen Reich die ganze Welt umspannt und in dem alle Völker willkommen sind. Sie sprechen auch nicht davon, dass die Feinde aus Israel vertrieben werden. Sie werden entweder „besiegt“ oder „vertilgt“, oder aber sie wenden sich dem Gott Israels zu und werden so ein Teil des messianischen Friedensreiches. Das aber ist etwas anderes als die militärische Vertreibung der Feinde aus dem eigenen Land. In den prophetischen Visionen des Alten Testaments wird es am Ende überhaupt keine Feinde mehr geben, weil diese entweder nicht mehr existieren oder sich dem wahren Gott zugewandt haben. Das aber ist, mit allen Höhen und Tiefen, exakt dieselbe Zukunftserwartung, die wir auch im neutestamentlichen Buch der Offenbarung und bei Jesus finden.

Im Judentum zur Zeit Jesu waren diese Hoffnungen aber weithin auf die Zukunft gerichtet. Für die Gegenwart hatte man sich unter der römischen Herrschaft ganz gut eingerichtet. Flavius Josephus berichtet sogar davon,  wie eine offizielle jüdische Delegation aus Jerusalem nach dem Tod des (jüdischen) Königs Herodes beim Kaiser in Rom ausdrücklich um die Abschaffung des jüdischen Königtums bittet:

„Ihr Hauptanliegen,  um das sie baten, war dieses: Dass sie befreit würden vom Königtum und allen ähnlichen Regierungsformen, und stattdessen der römischen Provinz Syrien zugeordnet würden, und der Regierungsgewalt von Statthaltern unterstellt würden, die ihnen aus Rom geschickt würden.“ (Jüdische Altertümer 17,300-314).

Die Kräfte, die für eine politische Unabhängigkeit von Rom kämpften, waren laut Josephus stets nur kleine Gruppen von „Banditen“ und „Aufrührern“, während der Großteil des Volkes auf Seiten der Römer stand. Die „Zeloten“ schließlich waren eine Gruppe, die sich erst im jüdischen Krieg 66 n.Chr. unter diesem Namen formierte und in der Zeit Jesu noch gar nicht existierte. Man mag Josephus zwar in seiner Darstellung politische Voreingenommenheit vorwerfen. Aber auch die Schriften anderer jüdischer Gruppen zeigen keinerlei Anzeichen für eine „rein politische“ Messiashoffnung, wie sie das Klischee unterstellt. In den Schriftrollen von Qumran etwa geht es mehr um den kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse als um einen realen Kampf gegen die Römer. Mit den „Söhnen der Finsternis“, „frevelhaften Priestern“ und „Lügenpropheten“, gegen die die „Kinder des Lichts“ in Qumran zu kämpfen haben, sind nicht die Römer, sondern andersgläubige Juden gemeint. In der Erwartung eines endzeitlichen Kampfes zwischen Gut und Böse, in dem nicht nur die Römer, sondern alle bösen Herrscher und alle Ungläubigen „vertilgt“ werden, sind sich die Juden von Qumran wieder einig mit den Propheten des Alten und Neuen Testaments, aber diese Erwartung geht eben über ein „rein politisches Königreich“ weit hinaus. Auch dem rabbinischen Judentum, also den Nachfahren der Pharisäer und Schriftgelehrten, ist die Vorstellung eines solchen politischen Messias, der die Römer aus Israel vertreibt, fremd. Im Gegenteil: Hier herrscht die schon oben beschriebene Überzeugung, dass das jüdische Volk auch unter fremder Herrschaft einen positiven Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft leisten soll. Man gründet sich dabei auf die biblische Tradition vom Sendbrief des Jeremia an die Deportierten in Babylon (Jer. 29,1-14) und auf die Überzeugung, dass Gott selbst sein Volk in die Exilserfahrung hineingeführt hat und es deshalb auch zu seiner Zeit wieder herausführen wird.

„Es steht geschrieben: ‚Sie sollen nach Babel geführt werden und dort bleiben bis auf den Tag, an dem ich nach ihnen sehe, spricht der HERR, und ich sie wieder zurückbringen lasse an diesen Ort‘ (Jer. 27,22). Rabbi Juda sagt: Hierauf bezieht sich auch der Vers: ‚Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr die Liebe nicht weckt, bevor es ihr selbst gefällt‘ (Hoh. 2,7). Was ist der Zweck dieser Beschwörung? Erstens: Dass die Israeliten nicht alle zusammen ‚wie eine Mauer‘ aus dem Exil zurückkehren sollen. Zweitens: Dass die Israeliten nicht rebellieren sollen gegen die Fremdherrscher. Und drittens: Dass die Götzendiener Israel nicht über die Maßen bedrücken sollen.“ (Babylonischer Talmud, Ketubot 111a)

Auch hier findet sich also nicht die Hoffnung auf einen politischen Messias, der die Römer vertreibt. Im Gegenteil, die Fortsetzung des babylonischen Exils unter der römischen Herrschaft wird als Wille Gottes akzeptiert, und es wird nicht durch Rebellion, sondern durch Gottes Eingreifen zu Gottes Zeit beendet werden. Diese Auslegung von Rabbi Juda fügt sich prinzipiell gut in das Bild, das auch Josephus von den führenden Lehrern des Volkes zeichnet.

Das Klischee von einer „rein politischen Messiaserwartung“ und einer Hoffnung auf gewaltsame Vertreibung der Römer ist also ein Phantom, das sich bei näherem Hinsehen in Luft auflöst. Die messianische Hoffnung des Judentums im ersten Jahrhundert ist zum einen pragmatischer, zum anderen universaler, als weithin angenommen. Sie ist universaler, weil sie nicht nur auf ein lokal begrenztes, jüdisches Königreich hofft, sondern auf ein weltweites messianisches Friedensreich, das auch die übrigen Völker der Welt einschließt und erst durch die endgültige Vernichtung aller bösen Mächte, nicht nur durch Vertreibung der Römer aus Jerusalem, aufgerichtet wird. Sie ist aber zugleich pragmatischer, weil sie sich für die Zwischenzeit bis zum endgültigen Kommen dieses Reiches mit den politischen Verhältnissen durchaus zu arrangieren weiß, insbesondere mit der Herrschaft der Römer. Man wartet also auf das Kommen eines universalen, messianischen Friedensreiches, ist aber in der Zwischenzeit schon jetzt und hier aktiver Teil der Gesellschaft, in der man lebt. Auch dann, wenn sie von fremden Herrschern regiert wird. Und gleichzeitig gestaltet man das Leben in dieser fremden Welt schon jetzt nach den Regeln des kommenden Reiches Gottes und versucht dadurch die bestehende Welt zu vervollkommnen bzw. zu heilen.

Genau dies ist aber, bei genauerem Hinsehen, auch die Haltung der ersten Christen, die ja zum größten Teil Juden waren. Sie hatten kein Bedürfnis und auch keine Notwendigkeit, sich von einer „falschen“ Messiaserwartung des Judentums zu distanzieren. Im Gegenteil, sie sahen genau diese Erwartung in Jesus erfüllt. Die christliche Angst vor einer allzu „jüdischen“ politischen Messiaserwartung ist also unbegründet. Ja, sie ist sogar irreführend: Denn die jüdische Erwartung ist zwar in der Tat politisch, weil sie das Wohl des ganzen Menschen und der ganzen Gesellschaft im Blick hat. Es geht nicht nur um „geistliches“ oder „jenseitiges“ Wohl, sondern um Gottes Herrschaft in der Welt. Aber sie ist eben nicht „rein politisch“ im Sinne des Klischees, das nur den militärischen Sieg über die Römer im Blick hat. Sie umfasst die politischen und sozialen, aber eben auch die spirituellen und seelischen Dimensionen des Daseins. Und sie umfasst von vorn herein nicht nur die jüdische, sondern auch die gesamte nichtjüdische Welt. Genau diese Botschaft der politischen, aber eben nicht rein politischen Weltveränderung ist aber die Botschaft, die auch Jesus verkündet hat. Auch hier hat also das christliche Klischee vom Judentum für lange Zeit auf unnötige Weise den Blick verstellt für eine Spiritualität der Gesellschaftsveränderung, von der wir als Christen der Neuzeit schon viel früher hätten lernen und profitieren können.

Juden, Christen und die gemeinsame Vision der Gesellschaftsveränderung

Tikkun olam – mit diesem hebräischen Begriff wird heute die jüdische Vision der Gesellschaftsveränderung beschrieben und zusammengefasst. Bereits im alten Aleinu-Gebet wird diese Vision mit der Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes verbunden. Es ist diese Vision einer durch Gottes Herrschaft veränderten Welt, die auch das Neue Testament prägt und die zum Kernthema der Predigt Jesu gehörte. Hätte die christliche Kirche ihre jüdischen Wurzeln treuer bewahrt, hätte sie diese Vision gemeinsam mit dem jüdischen Volk leben und in die gesellschaftliche Realität umsetzen können. Stattdessen aber haben sich die Wege schon früh getrennt, und das Wissen um die gemeinsamen Wurzeln ging dabei nicht selten verloren. In der christlichen Welt entwarf man das Klischee eines gesetzlichen, an Äußerlichkeiten orientierten und auf eine rein politische Messiaserwartung fixierten Judentums. Als Gegenbild dazu stellte man das Christentum oft als eine gesetzesfreie, auf innerliche Werte konzentrierte und an Politik nicht interessierte Religion, in der ethisches Handeln als Nebensache, gesellschaftliche Institutionen als irrelevant und politische Veränderung als Irrweg galten. Die revolutionäre und gesellschaftsverändernde Kraft, die in der jüdischen und frühchristlichen Hoffnung steckte, ging dabei weithin verloren. Heute entdecken viele Christen diese Botschaft des Neuen Testamentes neu. Oft jedoch tun sie dies erneut in Abgrenzung gegenüber den beliebten alten Klischees vom Judentum. Da wird Jesu Zuwendung zu den Armen mit einem vermeintlichen Snobismus der jüdischen „Frommen“ kontrastiert.  Jesu Zuwendung zu Zöllnern, Aussätzigen und Nichtjuden wird einem vermeintlich exklusivistischen Judentum gegenübergestellt. Und die Vision von einem multikulturellen, weltoffenen Reich Gottes wird erneut dem alten Klischee vom jüdischen Nationalismus entgegengehalten. Die Gefahr, dass sich die Fehler der Vergangenheit wiederholen, lauert also vor der Tür.

Abwenden lässt sie sich nur, wenn wir als Christen von dem alten Wunsch Abschied nehmen, unseren Glauben stets im Kontrast zum Judentum zu entwerfen. Stattdessen sollten wir uns denen zuwenden, die wir lange Zeit nur durch die Brille unserer Klischees betrachtet haben, um von ihnen und mit ihnen zu lernen. Gerade im Blick auf die Hoffnung einer veränderten Gesellschaft teilen wir als Juden und Christen eine gemeinsame Vision. Wir unterscheiden uns nicht in unserem Verständnis des Gesetzes, des Glaubens oder des Reiches Gottes. Worin wir uns tatsächlich unterscheiden, ist die Überzeugung, dass in Jesus die messianische Zeit bereits angebrochen ist, auf deren Anbruch die jüdische Welt mehrheitlich noch wartet. Hier werden wir wohl auf absehbare Zeit anderer Meinung bleiben. Einig sind wir uns jedoch in der Überzeugung, dass wir auf die endgültige Vollendung dieses Reiches noch warten. Und dass wir, während wir gemeinsam warten, schon hier und jetzt die Welt nach den Maßstäben des Reiches Gottes umgestalten und damit zu ihrer Heilung beitragen können.

Diese gemeinsame Vision von Juden und Christen formulierten im Jahr 2002 führende jüdische Gelehrte in Amerika unter dem Titel „Dabru Emet – Redet die Wahrheit!“, einer bahnbrechenden Stellungnahme zum jüdisch-christlichen Verhältnis. Sie schließen darin mit den Worten:

„Juden und Christen erkennen, ein jeder auf seine Weise, die Unerlöstheit der Welt, wie sie sich in andauernder Verfolgung, Armut, menschlicher Entwürdigung und Not manifestiert. Obgleich Gerechtigkeit und Frieden letztlich in Gottes Hand liegen, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit denen anderer Glaubensgemeinschaften helfen, das Königreich Gottes, auf das wir hoffen und nach dem wir uns sehnen, herbei zu führen. Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, unserer Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. In dieser Bemühung leitet uns die Vision der Propheten Israels (Jesaja 2, 2-3): ‚In der Folge der Tage wird es geschehen: Da wird der Berg des Hauses des Herrn festgegründet stehen an der Spitze der Berge und erhaben sein über die Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Dorthin pilgern viele Nationen und sprechen: „Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs! Er lehre uns seine Wege, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln.‘“

Möge Gott es schenken, dass wir als Christen aus der Vergangenheit lernen und in der Zukunft statt der Abgrenzung die Begegnung mit dem Judentum suchen. Hier können wir viel lernen über unsere eigenen Wurzeln, über die jüdische Welt von Jesus und die Bedeutung seiner Worte, über unsere eigenen christlichen Einseitigkeiten und über die Menschen, die schon damals mit Jesus, und heute mit uns auf das Kommen des messianischen Reiches und auf die Heilung der Welt hoffen.


Quelle: Jüdische Ansätze zur Gesellschaftsveränderung – In: Faix/Künkler, Die verändernde Kraft des Evangeliums, Francke 2012, S. 96-212 (320 kB)

(Original-Artikel hier als PDF herunterladen).

  1. Debora Lapide

    Vielen Dank, lieber Guido, für die klaren Worte! Wie wichtig sind doch die jüdischen Wurzeln! Das ist mehr als das Bekenntnis: Jesus war Jude. Dazu gehört ein großer Schatz an jüdischem Schriftgut aus dem 1. Jh., das belegt, dass Christen und Juden ‚aus dem selben Holz‘ sind, dass sie im Großen und Ganzen denselben Glauben teilen.
    Dass dieses Wissen doch Raum greifen möge in den Kirchen und unter Christen jeglicher Couleur! Das ist sicher auch der große Wunsch meines Schwiegervaters (זל).
    Debora Lapide

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