‚Ungebildete und ungelehrte Leute‘ (Apg. 4,13)?

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Bildung und geistliche Vollmacht zur Zeit Jesu

Wie gebildet war Jesus? Wie viel Bildung brauchte er überhaupt? Und wie gebildet waren seine Nachfolger? Unter Bibellesern und Predigern findet man nicht selten die Annahme, dass Jesus und seine Jünger ganz ohne „Bildung“ auskamen, weil sie ja schließlich ihre Weisheit und Einsicht direkt von Gott empfingen. In den Köpfen vieler Christen findet sich deshalb die Überzeugung, dass „Bildung“ für den echten Glauben eher ein Hindernis darstellt als einen Gewinn. Echte geistliche Demut zeige sich in fehlender Bildung, und insbesondere theologische Bildung wird eher als eine Gefahr für den Glauben angesehen.

Aber ist das wirklich so? Wie „ungebildet“ waren Jesus und seine Jünger wirklich? Was wissen wir überhaupt über die Bildung Jesu und seiner Jünger? Und sind Bildung und geistliche Vollmacht im Neuen Testament wirklich Gegensätze, die sich ausschließen? Es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen, zumal an einer Schule, an der sowohl Bildung als auch geistliche Vollmacht als Lern- und Lebensziele verfolgt werden.

Ist mangelnde Bildung eine geistliche Tugend?

Die verbreitete Annahme einer mangelnden Bildung unter den Jüngern Jesu gründet sich vor allem auf ein kurzes Zitat aus der Apostelgeschichte. Dort werden Petrus und Johannes dem Hohen Rat vorgeführt, und Petrus hält eine kurze Rede, die seine Zuhörer in Erstaunen versetzt. Luther übersetzt an dieser Stelle:

„Sie sahen aber den Freimut des Petrus und Johannes und wunderten sich; denn sie merkten, dass sie ungelehrte und einfache Leute waren, und wussten auch von ihnen, dass sie mit Jesus gewesen waren.“ (Apg. 4,13)

Dieses Zitat wird gerne mit einer ähnlichen Reaktion von Zuhörern Jesu in Verbindung gebracht, die Matthäus am Ende der sogenannten „Bergpredigt“ vermerkt:

„Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ (Mt. 7,28-29)

Ganz ähnlich klingt auch die Reaktion der Zuhörer im Johannesvevangelium:

„Und die Einwohner von Judäa wunderten sich und sagten: Wieso kennt dieser die Schrift so gut, obwohl er keine Ausbildung hat?“ (Joh. 7,15)

Hinzu kommt ein Ausspruch von Jesus selbst, der dieses Bild noch zu verstärken scheint:

„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.“ (Mt 11,25)

Jüdische Schulbildung zur Zeit Jesu

Was wissen wir überhaupt über die Schulbildung zur Zeit Jesu? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn die jüdischen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, sind unterschiedlich zuverlässig. Viele Überlieferungen des Judentums wurden erst im dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus erstmalig aufgeschrieben. Sie enthalten aber oft Informationen, die in die Zeit Jesu und manchmal sogar noch weiter zurückreichen. Aus diesen Quellen können wir daher mit einiger Zuversicht rekonstruieren, wie die Schulbildung eines normalen jüdischen Jungen im ersten Jahrhundert aussah. Bildung und Erziehung fanden demnach vor allem auf drei Wegen statt: Im Elternhaus, in der Synagoge und in der Elementarschule.

Die Rolle der Eltern bei der Erziehung und Bildung der Kinder wird schon im Alten Testament immer wieder betont: Wichtiges Grundwissen, aber auch Glaubensüberzeugungen und Lebenserfahrungen wurden von den Eltern an die Kinder weitergegeben und so durch die Generationen bewahrt.  So heißt es in Psalm 78,3-7:

„Was wir gehört haben und wissen und unsre Väter uns erzählt haben,  das wollen wir nicht verschweigen ihren Kindern; wir verkündigen dem kommenden Geschlecht den Ruhm des HERRN und seine Macht und seine Wunder, die er getan hat.  Er richtete ein Zeugnis auf in Jakob und gab ein Gesetz in Israel und gebot unsern Vätern, es ihre Kinder zu lehren,  damit es die Nachkommen lernten, die Kinder, die noch geboren würden; die sollten aufstehen und es auch ihren Kindern verkündigen,  dass sie setzten auf Gott ihre Hoffnung und nicht vergäßen die Taten Gottes, sondern seine Gebote hielten.“

Viele andere Bibelstellen belegen diesen Prozess der Weitergabe von Eltern an die Kinder (5. Mose 6,6-7; 32,7; 11,18; 1. Mose 18,19). Auch in späteren jüdischen Texten finden wir diese Praxis des Heimunterrichts häufig beschrieben. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien schreibt:

„Diejenigen, die die Kinder zeugen und zur Welt bringen, sind auch ihre ersten Lehrer, denn sie geben ihren Kindern von frühester Kindheit an alles weiter, was sie selbst wissen. Aber nicht nur Wissen und Denken bringen sie ihnen bei, sondern auch die so notwendigen Lektionen der Entscheidung und der Vermeidung, also die Fähigkeit, sich für das Gute zu entscheiden und das Böse zu vermeiden. Denn wer könnte für die Kinder ein besserer Wohltäter sein als die Eltern, die sie nicht nur in die Welt gebracht haben, sondern sie auch für wertvoll erachtet haben, am Anfang Speise und später auch Erziehung in körperlicher und geistlicher Hinsicht zu empfangen, und die sie auf diese Weise behähigt haben nicht nur zu leben, sondern gut zu leben.“ (Spec. Leg. 2,228)

Die jüdischen Rabbinen machten es jedem Vater zur Pflicht, seine Söhne in Grundkenntnissen des Gesetzes zu unterrichten. Bis heute ist diese Weitergabe von den Vätern an die Söhne prägend für die jüdische Erziehungspraxis. In Jerusalem habe ich oft beobachtet, wie Väter und Söhne etwa vor der Klagemauer zusammen die Tora studieren, ein Bild das man in unserer christlichen Gemeindelandschaft nur selten sieht. In der christlichen Kultur ist die religiöse Erziehung der Kinder oft eine Domäne der Mütter oder der Gemeindekreise. Christliche Väter könnten sich hier durchaus vom Vorbild der jüdischen Tradition eine Scheibe abschneiden. Im frühen Christentum jedenfalls scheint die jüdische Praxis noch prägend gewesen zu sein (Eph 6,4; Kol 3,21; Heb 12,9-11).

Bildungschancen für Frauen

Diese Form der Elementarbildung im Elternhaus blieb übrigens nicht nur den Jungen vorbehalten. Auch Mädchen genossen eine frühe Ausbildung im Elternhaus, auch wenn dies in der damaligen kulturellen Umwelt eher ungewöhnlich war. In der apokryphen Erzählung von Susanna, die sich in den katholischen Bibeln und manchen Lutherbibeln findet, wird die häusliche Bildung von Susanna ausdrücklich erwähnt:

„Ihre Eltern waren gerecht und hatten ihre Tochter gemäß dem Gesetz des Moses unterrichtet“ (Susanna 3)

Von Rabbi Johanan ben Zakkai, einem Zeitgenossen Jesu, ist der Ausspruch überliefert:

„Es ist erlaubt, seine Tochter Griechisch zu lehren, denn es ist für sie eine Auszeichnung.“ (Jerusalemer Talmud, Pea 1,1)

Rabbi Simeon ben Azzai, der gegen Ende des ersten Jahrhunderts lebte, ging sogar noch weiter:

„Es ist die Pflicht jedes Mannes, seine Tochter die Tora zu lehren“
(Mischna, Sota 3,4)

Allerdings gab es auch die gegensätzliche Ansicht, die von Rabbi Eliezer vertreten wurde:

„Wer seine Tochter die die Tora lehrt, der lehrt sie Ausschweifung.“
(Mischna, Sota 3,4)

Beide Meinungen sind sicherlich Extrempositionen, die häusliche Unterweisung von Mädchen war vermutlich weder vorgeschrieben noch verboten, aber doch durchaus verbreitet (vgl. z.B. Mischna Nedarim 4,3). Auch wenn die meisten Mädchen bereits im Alter von 13 oder 14 Jahren verheiratet wurden und danach in den meisten Fällen keine Möglichkeiten mehr zu höherer Bildung hatten, scheint die häusliche Elementarbildung in vielen Fällen dauerhafte Früchte gezeigt zu haben: So gab es offenbar viele Frauen, die von ihrem Bildungsgrad in der Lage waren, an den Elementarschulen zu unterrichten (Mischna Kiddushim 4,13), auch wenn sich die Rabbiner dagegen aussprechen, sie als Lehrerinnen zuzulassen. In den Synagogen gab es zeitweise weibliche Vorleserinnen (Tosefta Megilla 4,11), obwohl auch dies offenbar später wieder verboten wurde. Beispiele für besonders gebildete Frauen finden wir sowohl im Neuen Testament (z.B. Priszilla in Apg. 18,26) als auch in der jüdischen Literatur. So berichtet der Talmud davon, dass Rabbi Meir von seiner Frau Beruria über die richtige Textauslegung einer Bibelstelle belehrt wurde (Babylonischer Talmud, Berachot 10a).  Auch wenn eine formale Schulbildung (siehe unten) für jüdische Mädchen aufgrund des frühen Heiratsalters nicht vorgesehen war, kann man also dennoch von einer breiten Elementarbildung ausgehen, die im Elternhaus geschah. Hier unterscheidet sich die jüdische Kultur deutlich von der griechischen, in der zwar für Töchter aus vermögendem Haus eine Schuldbildung möglich und auch verbreitet war, wo es aber kaum eine Breitenbildung gab und daher in der Mittel- und Unterschicht kaum Lese- und Schreibkenntnisse vorhanden waren.

Die Synagoge als Ort der Bildung

Auch wenn das Elternhaus den ersten und elementarsten Ort der Bildung darstellte, wurde er schon früh durch die Synagoge und die Schule ersetzt. Aus welcher Zeit die Einrichtung der Synagoge stammt, ist nicht mehr ganz sicher festzustellen. Nach traditioneller jüdischer Ansicht reicht sie in die Zeit Esras zurück, also ins 5. Jahrhundert vor Christus. Vermutlich trafen sich solche frühen „Synagogen“, also Versammlungen, aber noch in Wohnhäusern oder auch auf öffentlichen Plätzen. Die öffentlichen Toralesungen, die von Esra nach dem Wiederaufbau Jerusalems veranstaltet wurden (Neh 8,1-18; 9,3), stellen die ersten Anfänge dieser Praxis dar. Sie sind auf jeden Fall ein beeindruckender und für die damalige Zeit ungewöhnlicher Versuch, Bildung nicht nur für einen kleinen Kreis von Gelehrten, sondern für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Als eigenständiges Gebäude sind Synagogen erst für die Zeit Jesu nachweisbar. Auch die Berichte des Neuen Testamentes zeigen, dass es Synagogen nicht nur in den großen Städten, sondern auch in kleineren Orten Galiläas gab. Einige davon sind seit dem letzten Jahrhundert auch archäologisch wiederentdeckt worden. Von der Synagoge in Kapernaum, in der Jesus oft lehrte, und die vom berühmten „Hauptmann von Kapernaum“ finanziert wurde (Luk 7,5), sind heute noch die Grundmauern erhalten. Allein in Jerusalem rechnet man für die Zeit Jesu mit etwa 400 Synagogen.

Die Synagoge war für die jüdische Gemeinde nicht nur ein Gebets- sondern auch ein wichtiger Lernort. Oft war sie baulich und auch personell mit einer Grundschule für Jungen verbunden (siehe unten). An den wöchentlichen Versammlungen am Samstag aber konnten auch Frauen und Mädchen teilnehmen, so dass hier eine sehr breite Allgemeinbildung der Bevölkerung geschah: Woche für Woche wurden hier Abschnitte aus der Tora und aus den Propheten vorgelesen und erklärt. Daher ist in der Breite der Bevölkerung eine gute und detaillierte Kenntnis nicht nur der Bibel, sondern auch der darin enthaltenen Gesetze, geschichtlicher Fakten und poetischer Texte vorauszusetzen. Deshalb kann Jesus in seinen Predigten und Gesprächen auch immer wieder aus der Schrift zitieren und voraussetzen, dass diese bei seinen Zuhören bekannt ist.

Das Auswendiglernen von Texten hatte in der jüdischen Kultur einen hohen Wert. Da eine schriftliche Ausgabe der Tora bestenfalls in der Synagoge, aber im Normalfall wohl nicht in Privathäusern vorhanden war, musste man Bibeltexte memorieren, um auch im Alltag darauf zurückgreifen zu können. Auch gemeinsame Gebete und Lieder im Gottesdienst wurden auswendig gesprochen und gesungen. Die jüdische Gesellschaft war daher für ihre Fähigkeit, Texte und Überlieferungen zu memorieren, bekannt. Der jüdische Historiker Josephus schreibt:

„Bei uns hingegen mag man den ersten besten über die Gesetze befragen, und er wird sämtliche Bestimmungen derselben leichter hersagen als seinen eigenen Namen. Weil wir nämlich gleich vom Erwachen des Bewusstseins an die Gesetze auswendig lernen, sind sie in unsere Seelen sozusagen eingegraben“ (Gegen Apion 2,178)

Der Kirchenvater Hieronymus, der einen großen Teil seines Lebens in Bethlehem lebte  und dort die Bibel übersetzte, berichtet voller Staunen über die Fähigkeiten jüdischer Zeitgenossen, die nicht nur die Namenslisten der Chronikbücher vorwärts und rückwärts aufsagen konnten, sondern in vielen Fällen auch die gesamten Mose- und Prophetenbücher auswendig beherrschten (Kommentar zu Jer. 25,26; Jesaja 58,2; Titus 3,9).  Aus heutiger Sicht erscheint eine solche Pädagogik des Auswendiglernens vielleicht als rückständig und pädagogisch wertlos. In einer Zeit, in der es keine Bücher, kaum Bilder und schon gar kein Video oder Power Point gab, sammelten Kinder aber durch diese Art des Lernens einen wertvollen Schatz an, auf den sie später wieder zurückgreifen konnten, dann vielleicht auch in reflektierterer Form. Jesus benutzt das Bild eines „Vorratsraums“ oder einer „Schatzkammer“, aus der ein Mensch schöpfen kann, wenn er in der Schrift gelehrt ist (Mt 13,52).

Die Synagoge, in der wichtige Texte und Überlieferungen regelmäßig gemeinsam wiederholt, erklärt und besprochen wurden, wurde daher in der Zeit Jesu zu einem zentralen Ort der Bildung. Sie war die „jüdische Volksbildungseinrichtung par excellence“ (Rainer Riesner)

Die Anfänge des Schulwesens

Neben der Synagoge, die eine große Breitenwirkung hatte, gab es zur Zeit Jesu vermutlich auch bereits ein ausgeprägtes Schulwesen. In der jüdischen Mischna ist das Wort überliefert:

„Mit fünf Jahren soll ein Junge die Schrift lernen. Mit zehn Jahren die Mischna (also die Gesetze). Mit dreizehn soll er die Gesetze einhalten. Mit fünfzehn soll er Talmud lernen (also die Kommentare zu den Gesetzen). Mit achtzehn soll er Heiraten, mit zwanzig einen Beruf ergreifen. Mit dreißig erreicht er seine volle Lebenskraft, mit vierzig Einsicht, mit fünfzig weisen Rat, mit sechzig das Alter…“ (Mischna Avot 5,21)

Es lässt sich nicht mehr sicher feststellen, aus welcher Zeit dieser Spruch stammt. Möglicherweise ist er ein späterer Zusatz, der die Verhältnisse späterer Jahrhunderte wiederspiegelt. Aber er zeigt, dass die Ausbildung in der jüdischen Tradition einen hohen Wert hatte und schon früh begann. Vermutlich war die Einrichtung öffentlicher Schulen im Judentum eine Antwort auf den zunehmenden Einfluss heidnischer griechischer Bildung, der im 2. Jahrhundert vor Christus in Jerusalem stark zunahm. Die Makkabäerbücher, die in vielen Bibeln als „Apokryphen“ aufgenommen sind, berichten von den schwerwiegenden kulturellen Kämpfen, die mit diesem Einfluss einher gingen. Von Rabbi Simon ben Schetach, einem der großen Lehrer dieser Zeit, wird daher berichtet, dass er für alle jüdischen Kinder eine Schulpflicht forderte: „Er ordnete an, dass alle Kinder zur Schule (hebr. bet sefer)gehen sollten“ (Jerusalemer Talmud, Ketuvin 32c). Leider lässt sich nicht mehr feststellen, ab welchem Alter diese Schulpflicht gelten sollte und wie konsequent die Forderung von Rabbi Simon tatsächlich umgesetzt wurde. Offenbar war in den Jahren 63-65 n.Chr. unter Rabbi Josua ben Gamla eine weitere Reform des Schulwesens notwendig, die dieses Mal gründlicher umgesetzt wurde. Diese Schrittweise Entwicklung des jüdischen Schulsystems ist in einer Notiz des Talmuds beschrieben:

„Josua ben Gamla soll in guter Erinnerung bleiben. Denn wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre die Tora in Israel in Vergessenheit geraten. Ganz früher nämlich pflegte man die Tora nur von seinem Vater zu lernen. Und wer einen solchen Vater nicht hatte, der lernte die Tora nicht. Dann aber ordnete man an, dass wenigstens in Jerusalem Kinderlehrer angestellt würden. Denn es heißt ja in der Bibel: „Aus Zion wird Weisung ausgehen“ (Jes. 2,3). Aber immer noch pflegte der Vater seinen Sohn zur Schule zu bringen. Und wer einen solchen Vater nicht hatte, der ging nicht zur Schule und lernte auch nichts. Danach schließlich ordnete man an, dass es für jeden Bezirk Kinderlehrer angestellt werden sollten. Diesen führte man die Kinder im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren zu. Wenn aber der Lehrer zu streng war, dann rissen die Schüler aus und kamen nicht mehr zur Schule. Deshalb trat schließlich Josua ben Gamla auf und ordnete an, dass man in jeder Provinz und in jeder Stadt Kinderlehrer anstellen sollte, und das Kinder ab einem Alter von sechs oder sieben Jahren zur Schule gehen sollten.“ (Babylonischer Talmud, Baba Batra 21a)

Sogar die Klassengrößen wurden in späterer Zeit genau festgeschrieben:

„Die Zahl der Schüler, die von einem Lehrer unterrichtet werden, sollte 25 nicht überschreiten. Wenn es fünfzig Schüler gibt, soll man zwei Lehrer anstellen. Wenn es vierzig sind, soll man wenigstens einen Assistenten hinzunehmen. Die Kosten dafür übernimmt die Dorfgemeinschaft“ (Baba Batra 21a)

Der Schulunterricht fand im Haus des Lehrers, oft aber auch oft im Synagogengebäude statt. Da viele Synagogen auch Übernachtungsmöglichkeiten boten, wohnte der Lehrer häufig in der Synagoge, so dass es eine enge Beziehung zwischen Synagoge und Schule gab. Das legte sich auch nahe, weil man auf die gleichen Schriften zurückgreifen musste, die in der Synagoge aufbewahrt waren. Auch in der Schule herrschte die Methode des Auswendiglernens vor, die zum Teil in deutlichen Bildern beschrieben wird:

„Vor einem Alter von sechs Jahren sollte man keinen Schüler aufnehmen. Danach kann man sie aufnehmen und mit Tora vollstopfen wie einen Ochsen…“ (Baba Batra 21a)

Neben dem Auswendiglernen wurden aber auch Kenntnisse des Lesens und Schreibens vermittelt. Von Rabbi Akiba, der am Ende des ersten Jahrhunderts lebte, wird erzählt, er habe das Alphabet gelernt, indem der Lehrer es auf kleinen Täfelchen vorschrieb (Avot de Rabbi Natan 6,2). Auch von Schulkindern zu Beginn des zweiten Jahrhunderts wird berichtet, dass sie Schreibfedern besaßen (Jerusalemer Talmud, Taanit 69a). Auch die Archäologie hat Überreste von „Schreibübungen“ auf Papyrus und Tonscherben aus verschiedenen Epochen zutage gefördert. Auch von Jesus wird berichtet, dass er schreiben konnte (Joh 8,6). Wie verbreitet die Fähigkeit zu Schreiben insgesamt war, wissen wir aber nicht.

Wie gebildet waren Jesus und seine Jünger?

Auch wenn wir also in vielen Einzelheiten nicht ganz sicher sein konnten, wie verbreitet und wie strukturiert das jüdische Schulsystem zur Zeit Jesu war: In jedem Fall existierte in der jüdischen Gesellschaft ein hohes Bewusstsein für den Wert von Kindererziehung und Elementarbildung. Gerade in der Breitenbildung, die alle Schichten des Volkes durchdrang, unterschied sich das Judentum von der griechischen Umwelt, wo Bildung zwar zum Teil intensiver und qualifizierter geschah, aber dafür nur für einen kleinen und wohlhabenden Teil der Gesellschaft zugänglich. Durch die Tradition der häuslichen Lehre, durch die regelmäßigen öffentlichen Lehrveranstaltungen in der Synagoge und auch durch die anfangenden Versuche eines Grundschulsystems war in der jüdischen Gesellschaft zur Zeit Jesu ein vergleichsweise hohen Stand der Elementarbildung vorhanden. Höhere Bildung war auch hier selten, da die Frauen früh heirateten und Kinder zur Welt brachten, die Männer ebenso früh einen Beruf ergriffen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse können wir aber selbst für die „einfachen Fischer“ wie Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus, eine solide Grundlage in Bibelkenntnis, Literatur, Liturgie, Lesen und möglicherweise auch Schreiben voraussetzen. Auch Jesus selbst hat diese gründliche Elementarbildung in Elternhaus, Synagoge und Schule erhalten, wie etwa aus Luk. 2,40-52 deutlich wird. Aber sowohl bei Jesus als auch bei seinen Jüngern endete der Bildungsweg nicht an dieser Stelle:

Der „Rabbi“ und seine Schüler

Jesus wird in den Evangelien mehrfach als „Rabbi“ angeredet, und auch die Tatsache, dass er eine Reihe von „Schülern“ um sich sammelte, hat oft zu der Vermutung geführt, Jesus habe eine formale Ausbildung als „Rabbiner“ erhalten. Noch der große Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann schrieb in seiner Jesus-Biographie 1929, „dass Jesus zum Stande der Schriftgelehrten gehörte, dass er eine zunftgemässe Ausbildung erfahren und die vorgeschriebenen Prüfungen absolviert hatte“ (Jesus, S. 55). Aus heutiger Sicht ist diese Annahme aber nicht mehr aufrecht zu erhalten. Der Titel „Rabbi“ war im ersten Jahrhundert noch keine formale Amtsbezeichnung, schon gar nicht gab es Prüfungen oder eine „Ordination“, die zum Tragen dieses Titels berechtigte. Vermutlich handelt es sich zu dieser Zeit noch um eine Art Ehrentitel („hoher Lehrer“), den man angesehenen Personen aufgrund ihres Rufes oder aufgrund der Qualität ihrer Lehren zuschrieb.

Auch der Begriff der „Schule“ ist in diesem Zusammenhang mißverständlich. Zwar gab es die sogenannte „Schule des Hillel“ und die „Schule des Schammai“, doch handelt es sich dabei nicht um Institutionen oder Lehrhäuser, sondern eher um Denkrichtungen und Lehrtraditionen, die eher den Lehren des Hillel oder eher den Lehren des Schammai folgten. Es gab also zur Zeit Jesu, und auch vorher schon, bedeutende Lehrer, und diese hatten auch Schüler. Dies waren aber stets persönliche Lernbeziehungen. Wie in der Beziehung zwischen Vater und Sohn, oder zwischen Mutter und Tochter, so gab der Lehrer sein Wissen, seine Erfahrung und seine Überzeugungen an seine Schüler weiter, der sie dann wiederum an seine eigenen Schüler weitergab. So entstand eine andauernde Kette der Überlieferung, die im traditionellen Judentum unmittelbar bis auf Moses zurückgeführt wird:

„Mose empfing das Gesetz am Sinai. Und von Moses kam es auf Josua und von Josua auf die Ältesten und von den Ältesten auf die Propheten und von den Propheten auf die Männer der Großen Ratsversammlung. Und diese lehrten drei Dinge: Seid bedächtig beim Richten! Nehmt viele Schüler an! Und achtet auf die Einhaltung des Gesetzes!“ (Mischna Avot 1,1)

Unmittelbar auf diesen Grundsatz folgt in der Mischna der Ratschlag des Jose ben Joezer: „Dein Haus sei ein Versammlungsort weiser Männer. Bestäube dich mit dem Staub ihrer Füße, und trinke durstig ihre Worte.“ (Mischna Avot 1,4). Hieraus wird deutlich: Der Lehrer hat den Auftrag, sich Schüler zu suchen, und ebenso hat der Schüler den Auftrag, sich weise Lehrer zu suchen. Das lässt sich auch bei Jesus beobachten: Er wählt sich bewusst seine Jünger aus und ruft sie in die Nachfolge. Andererseits gibt es aber auch viele Menschen, die ihm von sich aus nachfolgen und von vielen Orten herbeiströmen, um seinen Predigten zuzuhören.

Jesus hat also keine „formale“ Ausbildung zum Rabbi erhalten, weil es so etwas damals noch nicht gab. Dennoch war ihm die Welt und die Denkweise der jüdischen Lehrer nicht fern. Die Art etwa, wie Jesus Gleichnisse erzählt, hat viele sehr enge Parallelen zu Gleichnissen, wie sie jüdische Lehrer vor und nach ihm erzählten: So gibt es auch dort Gleichnisse von Arbeitern im Weinberg, von Königen, die Hochzeitsmahle halten und von Knechten, die Schulden haben. Auch die Art der Argumentation weist bei Jesus oft typisch „rabbinische“ Züge auf, etwa wenn er den Schluss „vom Kleineren aufs Größere“ zieht (Mt 7,11; Mt 10,25; Mt 12,12).  Jesus zitiert wichtige Maximen von anderen großen Lehrern seiner Zeit, etwa von Hillel („Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht“, Talmud Shabbat 31a) oder von Simon ben Menasia („Der Sabbat ist für euch gemacht und nicht ihr für den Sabbat“, Midrasch Mekhilta zu Ex. 31,12). In der Frage der Ehescheidung schloß widersprach Jesus der Meinung Hillels und schloss sich der strengeren Lehrmeinung von Schammai an. Überall wird in den Worten Jesu deutlich, dass er bestens vertraut ist nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit den Diskussionen und Lehrmeinungen und Lehrmethoden seiner Zeit. Und er trat gegenüber den Volksmassen und gegenüber seinen Jüngern eben nicht nur als Prediger und Wundertäter, sondern auch als Lehrer auf: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“ (Mt 11,29)

Wirklich „Ungebildete Leute“?

Ein Blick auf das jüdische Bildungswesen zur Zeit Jesu macht also deutlich: Weder Jesus noch seine Jünger waren „ungebildete Leute“. Sie genossen schon als Kinder eine breite und solide Elementarbildung durch Elternhaus, Synagoge und Schule. Jesus zeigt sich darüber hinaus auch vertraut mit der Welt der jüdischen Lehrer und Weisen, die man gewöhnlich erst in der höheren Schule kennenlernte. Es ist also gut möglich, dass er, bevor er den Beruf des Bauhandwerkers ergriff, noch einige Jahre lang eine höhere Schulbildung erhielt. Als „messianischer Lehrer der Weisheit“ (Riesner) rief er dann auch Schüler in seine Nachfolge und vermittelte ihnen einen Schatz an Weisheit, Wissen und Erfahrung, der weit über das übliche elementare Grundwissen hinausging.

Der eingangs zitierte Satz von den „ungebildeten Leuten“ muss deshalb möglicherweise ganz anders gelesen und übersetzt werden. Der griechische Text erlaubt dies auch: Er wäre dann nämlich keine Aussage über die mangelnde Bildung der Jesusjünger, sondern im Gegenteil ein Hinweis auf die überraschte Reaktion der Ratsmitglieder, als sie erfuhren, dass die Leute, die sie eigentlich für Fischer mit einer normalen Allgemeinbildung hielten, in Wirklichkeit Schüler eines großen Lehrers waren, und damit alles andere als ungebildet:

„Sie sahen aber den Freimut des Petrus und des Johannes und staunten nicht schlecht: Denn sie hatten eigentlich gehört, dass es sich nur um ungelehrte und einfache Leute handele. Nun aber wurde ihnen klar, dass es Leute waren, die mit Jesus zusammen gewesen waren.“ (Apg. 4,13)


Quelle: Bildung und geistliche Vollmacht zur Zeit Jesu – Bildung. mbs Jahrbuch 2011, S. 15-27 (500 kB)

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