Widersprüche in der Bibel

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Es ist ein uraltes Streitthema zwischen überzeugten Christen und ihren oft ebenso überzeugten Kritikern: Gibt es in der Bibel Widersprüche? Die Antwort scheint alles entscheidend zu sein für den christlichen Glauben.

Wer einmal die Stichworte „Widersprüche in der Bibel“ googelt, der wird schon auf der ersten Ergebnisseite sehen, wie in dieser Frage zwei gegensätzliche Meinungen frontal aufeinanderprallen: Da gibt es zum Beispiel eine islamische Missionsschrift mit dem Titel „101 Widersprüche in der Bibel“ (Shabir Ally). Mit allergrößter Sorgfalt sind hier widersprüchliche Zahlen- und Namensangaben und andere Widersprüche in der Bibel zusammengetragen, um nachzuweisen, dass die Bibel unmöglich Gottes Wort sein kann. Ebenso gründlich, und sogar noch etwas ausführlicher, fällt eine christliche Antwort aus, die direkt darunter zu finden ist: „102 Antworten auf 101 Widersprüche in der Bibel“ (Karl-Heinz Vanheiden, Bibelbund Verlag 2011).

Fragen muss erlaubt sein

Die Fronten scheinen auf den ersten Blick klar zu sein: Nur wer nicht richtig glaubt, der entdeckt vermeintliche Widersprüche in der Bibel. Wer aber richtig glaubt, für den steht fest: Es kann in der Bibel keine Widersprüche geben, denn Gott widerspricht sich ja nicht. Das Problem ist allerdings: Ungeübte Bibelleser, die im Hauskreis oder zu Hause auf Aussagen der Bibel stoßen, die sie als widersprüchlich empfinden, trauen sich deshalb oft nicht, ihre Fragen zu stellen, aus Angst, sie könnten von den anderen als Zweifler oder Ungläubige angesehen werden. Umgekehrt haben manche Hauskreisleiter Angst, solche Fragen aufzugreifen, weil sie Sorge haben, keine lückenlosen Antworten parat zu haben. So nagt der Zweifel oft im Verborgenen, aber es gibt keine Gelegenheit, ihn zu äußern oder zu besprechen.
Antworten gemeinsam suchen

Besser, als die Fragen verschämt zu verstecken, ist es daher, sie offen auf den Tisch zu legen. Nicht die Frage „Gibt es Widersprüche in der Bibel?“ sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage: „Wie können wir mit Bibeltexten umgehen, die wir als widersprüchlich empfinden?“ Denn wer die oben genannten langen Listen mit „Widersprüchen“ einmal durchsieht, der merkt sehr schnell, dass es keine pauschalen Antworten gibt – es gibt sehr verschiedene Arten von solchen „Widersprüchen“, mit denen wir unterschiedlich umgehen müssen. Allerdings merkt man auch, dass es gar nicht möglich (und auch nicht nötig) ist, alle Widersprüche haarklein wegzuerklären. In vielen Fällen räumen selbst ganz bibeltreue Autoren ein, dass solche Widersprüche tatsächlich bestehen, sie nennen sie dann nur anders. Ehrlicher finde ich es deshalb, Widersprüche grundsätzlich zuzulassen, aber genauer hinzusehen, um welche Art von Diskrepanz es sich handelt. Einige dieser Arten will ich hier und in einem zweiten Artikel kurz vorstellen.

1. Widersprüche, die gar nicht in der Bibel stehen

Tatsächlich verschwinden einige Widersprüche der Bibel schon, wenn wir genauer hinsehen. Da gibt es zum Beispiel die erste Sorte von Widersprüchen: Die, die wir in die Bibel hineinlesen, obwohl sie gar nicht drinstehen. So fragte ein Leser des HauskreisMagazins, wie es sein könnte, dass Jesus, erst wenige Wochen alt, von seinen Eltern im Tempel von Jerusalem dargebracht wurde (Luk 2,22), während doch in einem anderen Bericht die heilige Familie gleich nach der Geburt nach Ägypten floh (Mt 2,13-14). Ein genauerer Blick in den Bibeltext zeigt hier: Matthäus schreibt nicht, dass der Besuch der Weisen, der der Flucht vorausging, direkt nach der Geburt geschah, obwohl das in unseren modernen Weihnachtsspielen meistens so ist. Nach dem Bibeltext kann er durchaus Monate später stattgefunden haben, also lange nach der Darbringung. Ähnlich ist es mit der oft geäußerten Behauptung, Matthäus und Lukas widersprächen sich bei der Angabe des Heimatortes von Josef und Maria: Nach Lukas 2,4 kämen sie schon vor der Geburt Jesu aus Nazareth, nach Mt 2,22-23 seien sie jedoch erst nach ihrer Rückkehr aus Ägypten dorthin gezogen. Auch hier wird jedoch mehr in den Text von Matthäus hineingelesen, als dieser aussagt. In Mt 2 wird gar nicht behauptet, dass sie nicht auch schon vor ihrem Ägyptenaufenthalt in Nazareth gewohnt haben. Zum Vergleich: Als meine Frau und ich nach sechs Jahren Auslandsaufenthalt wieder nach Deutschland zurückkehrten, stellte sich für uns die Frage, an welchem Ort wir in Zukunft wohnen sollten. Wir hatten den Eindruck, dass Gott uns nach Marburg schickt. Dass wir dort vorher schon viele Jahre gelebt hatten, empfanden wir nicht als Widerspruch. Bei vielen scheinbaren Widersprüchen lohnt es sich also, zuerst einmal genauer hinzusehen, ob wir nicht mit unserer modernen Brille etwas in den Bibeltext hineingelesen haben, was dort gar nicht steht.

2. Widersprüche, die sich durch genaueres Nachforschen aufklären lassen

In anderen Fällen enthält der Bibeltext vielleicht beim ersten Hinsehen tatsächlich Widersprüche. Bei genauerer Untersuchung der Zeitkultur oder der ursprünglichen Formulierungen stellt sich aber heraus, dass es sich nicht um einen Widerspruch handelt. So wehrt sich Paulus in Gal 2,3 vehement gegen die Beschneidung von Nichtjuden (Gal 2,3), aber sorgt selbst für die Beschneidung des Timotheus (Apg 16,3). Warum? Weil dieser eine jüdische Mutter hatte und daher nach jüdischem Recht tatsächlich als Jude galt. Hier ging es also nicht um die Beschneidung eines Nichtjuden, sondern um die eines Juden. Die unterschiedlichen Zeitangaben zum Kreuzestod Jesu (Joh 19,14; Mk 15,25) lassen sich möglicherweise durch die unterschiedlichen Zeitrechnungen in der römischen Welt und der jüdischen Welt erklären. Die Frage, ob Jesus am Nachmittag vor dem Passamahl gekreuzigt wurde (Joh 18,28), oder am Tag nach dem Passamahl (Lk 22,15), lässt sich entweder durch einen Streit um den richtigen Passatermin zwischen unterschiedlichen jüdischen Rechtsschulen erklären, der in jüdischen Quellen verschiedentlich belegt ist. Oder aber mit einer jüdischen Gesetzesregelung: Die besagte, dass die Pilger von auswärts ihr Passalamm bereits einen Tag vor dem eigentlichen Termin im Tempel opfern mussten – wegen des starken Andrangs. Auch auf diese Regelung gibt es
Hinweise in jüdischen Quellen.

Etwas komplizierter ist die Sache in Markus 1,1-2: Hier beginnt das Evangelium vermeintlich mit einem groben Schnitzer: „Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Wie geschrieben steht im Propheten Jesaja: „Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg bereiten soll.“ Den Satz, der hier zitiert wird, sucht man allerdings im Buch Jesaja vergeblich. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Mischung aus Mal 3,1 und 2 Mo 23,20. Erst danach folgt ein Zitat aus Jesaja 40,3. Also ein klarer Widerspruch? Schon in alten Bibelmanuskripten aus dem 4. Jahrhundert kann man sehen, wie Abschreiber diesen vermuteten Widerspruch durch eine kleine Änderung zu vertuschen suchten, etwa indem sie den „Propheten Jesaja“ ersetzten durch ein allgemeineres „die Propheten“. Manche Bibelausleger versuchen den Widerspruch aufzulösen, indem sie erklären, die Einleitung beziehe sich eben nicht auf das erste Bibelzitat, sondern auf das zweite. Tatsächlich jedoch löst sich der „Widerspruch“ viel einfacher auf: Die Formel „wie geschrieben steht“ bezieht sich nämlich nicht auf die Bibelverse, die darauf folgen, sondern auf das Wort „Evangelium“, das direkt davor steht. Wir haben die Bibel nur missverstanden, bis hinein in die Bibelübersetzungen, die hier am Ende des Satzes (fälschlich) einen Doppelpunkt anstelle eines Punktes setzen. Das Wort „Evangelium“ stammt aus Jes 52,7. Dort ist von der frohen Botschaft die Rede, von Frieden und Rettung, die der Freudenbote bringt. Dieses Evangelium, nach dem Markus sein ganzes Buch wie mit einer Überschrift benennt, steht also in der Tat „geschrieben im Propheten Jesaja“. Genaues Nachprüfen zeigt also hier: Was wie ein Widerspruch scheint, ist in Wirklichkeit keiner. Viele scheinbare Widersprüche in der Bibel lassen sich auf diese Weise, mit etwas Mühe und Entdeckergeist, aufklären. Die Mühe lohnt sich und bringt oft überraschende Einsichten und Entdeckungen.

3. Widersprüche, die sich nicht so einfach auflösen lassen

Herausfordernder aber sind diejenigen Widersprüche, die sich nicht so leicht aufklären lassen. Und die gibt es auch. Sie fordern weniger unseren Forschergeist, sondern zwingen uns dazu, über unser Verhältnis zur Bibel und unseren Umgang mit solchen Widersprüchen nachzudenken. Das beginnt bei der Frage, ob es solche Widersprüche überhaupt geben kann und darf, wenn die Bibel wirklich Gottes Wort ist. Und es geht weiter mit der Frage, wie diese Widersprüche (wenn es sie denn gibt), unser Bibelverständnis verändern und wie wir mit ihnen umgehen lernen können.

Die grössere Perspektive

Wenn wir nämlich der Frage nach Widersprüchen in der Bibel auf den Grund gehen, dann stoßen wir dort auf eine viel grundsätzlichere Frage. Dann geht es nicht mehr darum, in Einzelgefechten kluge Antworten auf berechtigte Fragen zu finden. Sondern es geht um unser Bild von der Bibel: Mir scheint es manchmal, als würden sowohl die, die eifrig nach Widersprüchen in der Bibel suchen, als auch die, die sie vehement bestreiten, ein ähnliches Bild von der Bibel voraussetzen: Beide nämlich gehen davon aus, dass die Bibel ein in sich geschlossenes System ist, bei dem die Wahrheit jeder einzelnen Aussage an der Wahrheit jeder anderen Aussage hängt. So wie bei einem Kartenhaus, das dann, wenn man nur eine einzige Karte herauszieht, vollständig in sich zusammenfällt. Ich persönlich teile diese Sicht der Bibel nicht. Sie ist mir zu wackelig, zu brüchig, für ein Buch, das sich nun schon seit Jahrtausenden durch alle Stürme des Lebens und der Geschichte bewährt hat als ein fester Grund des Glaubens für so viele Menschen. Sicher: Auch Millionen können irren. Aber man sollte wenigstens genauer hinsehen und prüfen, bevor man so ein leichtfertiges Urteil trifft. Als Christen – egal ob „liberal“ oder „fromm“ – glauben wir, dass die Schrift Gottes Wort an uns ist. Und Gottes Wort wird in der Bibel selbst nicht als etwas Wackliges oder Brüchiges beschrieben, sondern wie ein Sturmwind oder ein starker Fels oder ein Hammer, der Felsen zerschlägt. Fest und unerschütterlich also. Da ist das Bild vom Kartenhaus vielleicht von Anfang an kein gutes Modell.

Gottes Wort kann Widerspruch ertragen

Ganz im Gegenteil: Für mich ist die Bibel gerade deshalb so vertrauenswürdig, weil sie die Widersprüche des Lebens nicht verschweigt, sondern offenlegt. Und weil sie Menschen zu Wort kommen lässt, die auf ganz verschiedene Weise reden, denken und glauben. Menschen, die schon in sich so widersprüchlich sind wie ein Abraham, der einerseits Gott vertraut und andererseits doch mit menschlichen Tricks Gott auf die Sprünge helfen will (1. Mo 16,1-4). Oder ein Vater, der seinen Glauben gerade dadurch zeigt, dass er Jesus seinen Unglauben bekennt (Mk 9,24). Dass solche Menschen sich widersprechen, auch dann, wenn sie von Gottes Geist bewegt werden, ist für mich kein Widerspruch. Die Frage, die für mich am Ende bleibt, ist deshalb nicht, ob es in der Bibel Widersprüche gibt. Sondern was das für Widersprüche sind und wie wir mit ihnen umgehen lernen. Darum soll es im zweiten Teil dieses Artikels gehen.

Zum Weiterlesen gelangen Sie hier zur vollständigen PDF.

in: Praxis gestalten / Hauskreismagazin Nr. 46, S. 52-54

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