Gottes Bewährungsfeld der Versöhnung: Warum mir Israel wichtig ist

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Ich gebe zu: Israel war mir nicht immer wichtig. Nicht in den ersten 14 Jahren meines Lebens, in denen ich insgesamt nicht sehr viel mit dem christlichen Glauben zu tun hatte. Und auch nicht in den zweiten 14 Jahren, in denen ich sehr bewusst und sehr engagiert die Bibel gelesen habe und versucht habe, Jesus folgen. Theologische Ausbildung zum Pfarrer inbegriffen. Das geht auch ohne Israel ganz gut. An unserer Uni gab es eine schon fast legendäre Vorlesung eines Professors für Altes Testament, die jedes Jahr neu auf dem Vorlesungsplan stand: „Landeskunde Palästinas. Mit Lichtbildern“. Ich selbst habe sie nie besucht, aber aus Erzählungen hörte ich es Munkeln von vergilbten Urlaubsbildern mit vielen Palmen und vielen vielen Steinen drauf, und vor allem mit der Professorengattin samt  Strohhut und Sonnenbrille. Das alles brauche ich als Christ nicht, war meine feste Über­zeugung. Schließlich lebe ich mit Jesus im Hier und Jetzt, und Gottes Geist ist weder an Länder noch an Nationen gebunden. Das mag vielleicht im Alten Testament noch so gewesen sein, aber spätestens seit Jesus sind diese Begrenzungen überwunden. Für meinen Glauben ist Israel nicht wichtig. Nicht als Volk und auch nicht als Land. So dachte ich jedenfalls.

Wie das Leben aber so spielt, lernte ich während des Studiums meine Frau Steffi kennen. Sie war nicht nur eifrige Besucherin der besagten Vorlesung, sondern lernte nebenbei auch noch Neuhebräisch. Und in den Sommerferien nahm sie an einer Studienreise nach Israel teil, von der sie anschließend begeistert berichtete. Mir war das alles zwar ein wenig suspekt, die meisten Israel-Liebhaber, die ich bis dahin kannte, gehörten zu einer etwas anstrengenden Sorte von Mensch. Manchmal etwas überschwänglich, oft emotionale Charaktere, manchmal auch etwas blauäugig und stets sehr auf Endzeit- Spekulationen fixiert. Das alles war mir persönlich eher fremd. Meine Frau jedoch, damals noch nicht die ebensolche, war erfrischend anders: Am von ihr angebotenen Lichtbildervortrag nahm ich denn auch mit großem Interesse teil, auch wenn dieses Interesse weniger den Bildern als der Fotografin galt. Wenig später fanden wir zusammen und heirateten auch bald darauf. Nach dem Studium planten wir einen gemeinsamen Weg in die Mission, wenn möglich in Ostafrika, denn mir persönlich schien dieses Land Gott mehr am Herzen zu liegen als jenes andere. Schließlich gab es dort unerreichte Völker und außerdem Armut, während Israel mir eher so etwas wie ein Museum biblischer Geschichte für christliche Insider zu sein schien.

Aber wieder einmal waren Gottes Wege anders als unsere: Kurz vor dem Abschluss unseres Studiums wurde dem Christus-Treff, in dem wir beide damals schon mitarbeiteten, ein Haus mitten in der arabischen Altstadt Jerusalem angeboten: Wir beschlossen, ein kleines Team dorthin zu entsenden, um dort zu leben, zu arbeiten, zu beten und die Türen zu öffnen für Reisende, Pilger, einheimische Christen und Suchende. Steffi und ich legten unsere Afrika-Pläne zunächst auf Eis und schlossen uns dem Team in Jerusalem an. Für ein Jahr.

Dieses Jahr hat meine Haltung gegenüber Israel nachhaltig verändert. Nicht, dass ich plötzlich ein emotionalerer Mensch geworden wäre. Oder dass ich jetzt über Gottes Zeitplan für die Endzeit besser Bescheid wüsste. Auch mein Musikgeschmack ist nicht osteuropäischer geworden. Und Falafel und Hummus mag ich immer noch nicht.

Israel ist mir auf eine andere Weise wichtig geworden, als ich es erwartet hätte. Anders als die übliche Urlaubsschwärmerei, die ein Auslandsjahr immer mit sich bringt (die sicher auch). Aber Israel ist mir noch auf eine andere Weise wichtig geworden. Eine Weise, die tiefer geht als Emotion, Reiselust, kulturelle Vorlieben oder politische Solidarität. Eine Weise, die unlösbar verbunden ist mit dem Kern meines Glaubens. Eine Weise, die etwas damit zu tun hat, dass Gott sein Wesen und sein Handeln in geheimnisvoller Weise an dieses Land und dieses Volk gebunden hat. Israel gehört deshalb weder einer heilsgeschichtlichen Ver­gangenheit an noch den Randbereichen des Glaubens. Sondern es bleibt im Zentrum einer Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist.

Es ist die große Geschichte von der Versöhnung, für die Gott Israel als Schauplatz und Übungsfeld ausgewählt hat. Ihren Dreh- und Angelpunkt hat sie in jenem Kreuz, das einst vor den Toren Jerusalems aufgestellt wurde und an dem Gott sein eigenes Blut vergoss, um die Welt mit sich zu versöhnen.  Aber dieser Dreh- und Angelpunkt hat eine Vor- und eine Nachgeschichte, ohne die er keinen Sinn machen würde: Gottes Botschaft der Versöhnung ist keine zeitlose philosophische Einsicht, kein pädagogisches Konzept und kein psychologisches Programm. Sondern eine greifbare Realität, die in der irdischen Realität dieser Welt und ihrer Gesichte fest verankert ist und hier Gestalt gewinnt.

Für viele Christen ist Versöhnung etwas, das nur im Herzen des Menschen stattfindet und das allenfalls im Himmel Auswirkungen hat. Aber die Bibel erzählt eine andere Geschichte. Schon im ersten Satz. Dort heißt es: Gott schuf Himmel und Erde. Und die Erde ist ihm ebenso wichtig wie der Himmel. Denn die Erde ist der Ort, auf dem die große Geschichte der Versöhnung Wirklichkeit wird. Wirklichkeit aus Fleisch und Blut, aus Staub und Steinen. In Häusern, auf Straßen und Wegen. Auf Schlachtfeldern, in Familien, in Städten, Palästen und Parlamenten. Gottes Geschichte von der Versöhnung ist keine blutleere Geschichte, die sich nur in Köpfen oder Herzen abspielt. Sondern sie handelt hier auf der Erde. Und sie ist verbunden mit realen Orten, Ländern und Völkern. Insbesondere dem einen Volk, das Gott sich ausgesucht hat, um Handlungsträger dieser Geschichte zu werden. Und dem einen Land, das zugleich den Übungsplatz und das Spielfeld darstellt für die große Geschichte der Versöhnung, die Gott schreibt.

Warum mir Israel wichtig ist? Es gäbe sicher viele tausend Gründe zu nennen. Aber dieser ist für mich der tiefste: Hier, in diesem Land und an diesem Volk will Gott deutlich machen, wie sein Wesen ist und wie Versöhnung geschieht. Er beginnt damit, als er Abraham beruft, als Fremder in einem feindlichen Land heimisch zu werden. Und es ist zunächst ein steiniger Weg voller Misstrauen, Angst, Lüge, Krieg und Bruderstreit, den Abraham in diesem neuen Land geht. Aber am Ende der Reise steht eine beeindruckende Szene der Völkerverständigung und des nachbar­schaftlichen Respekts, als Abraham von dem Hetiter Efron eine Grabstätte für seine Frau Sara erwirbt. Das erste Stück Land ist gewonnen. Nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch Gottes Gnade und auf dem Weg des versöhnlichen Miteinanders. Auch die Geschichte von Abrahams Enkeln, Jakob und Esau, ist zuerst eine Geschichte von Neid, Missgunst, Streit und Betrug. Aber sie endet in einer Szene der Versöhnung, in der sich die verfeindeten Brüder in den Armen liegen und einer dem anderen sagt: „Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht, und du hast mich freundlich angesehen.“ (1. Mose 33,10)

Dieser Kreislauf von Streit, Leid und Versöhnung zieht sich durch die weitere Bibel wie ein Roter Faden. Israel durchlebt in seiner Geschichte exemplarisch, was viele Menschen in der Welt durchleben: Viel Blut ist geflossen, viel Leid durchlitten, viele Kämpfe gekämpft und viele Schlachten geschlagen. Und manch einer, auch viele Christen, haben die Geschichte Israels nur als eine „Geschichte des Scheiterns“ sehen können, die mit Jesus zu ihrem notwendigen Ende kam. Aber Gott ist kein Gott, der die Gescheiterten aufgibt. Im Gegenteil: Schon im Alten Testament feierte Israel jedes Jahr das große „Fest der Versöhnung“, an dem deutlich wurde: Trotz aller Schuld, trotz allem Scheitern gibt Gott seinen Plan mit seinem Volk nicht auf. Er schafft, jetzt und hier, mitten in Jerusalem, in einem Haus aus Stein, das menschliche Hände errichtet haben, einen Schauplatz der Versöhnung.

Und Jerusalem bleibt Gottes Übungsfeld der Versöhnung, auch im Neuen Testament: Gott beginnt keine neue Geschichte, an neuem Ort, mit einem neuen Volk. Er beginnt auch keine Geschichte ohne Ort und ohne Volk. Sondern er schreibt die Geschichte seines Volkes weiter. An dem Ort, an dem seit Generationen das Fest der Versöhnung gefeiert wurde. Und in der Person des Einen, in dem Er selbst ein Teil seines Volkes wurde. Er war in Christus, und versöhnte die Welt mit sich selbst. Und jetzt macht er uns zu Botschaftern dieser Versöhnung. Es ist eine weltweite Botschaft, die allen Menschen und allen Völkern gilt. Aber sie bleibt für immer verankert an diesem Ort, in diesem Land und in diesem Volk, die Gott sich ausgewählt hat. Und das ist wichtig, damit das Wort „Versöhnung“ die Bodenhaftung nicht verliert und sich zu einem geistlichen Prinzip verflüchtigt, das ohne Auswirkungen bleibt für die harten Realitäten dieser Erde. Und wer meint, dass im Neuen Testament nicht mehr das „Land“, sondern nur noch die „Welt“ zählt, der hat übersehen, dass es sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen für beides nur ein Wort gibt.

Ohne Zweifel: Diese Botschaft der Versöhnung ist noch nicht überall angekommen. Ebenso wenig wie die Realität der Versöhnung. Israel ist durch die Zeiten hindurch immer wieder ein Ort des Krieges und der Unversöhnlichkeit geworden. Weltmächte, Kulturen und Religionen prallen hier aufeinander, und manchmal kann es scheinen, als hätte die Botschaft der Versöhnung hier keine Chance. Christen haben sie daher immer wieder  auf eine jenseitige oder innere Welt verschoben, so als wollten sie den Mächten des Unversöhnlichkeit das irdische Kampffeld einfach überlassen.

Aber zurück zu meiner persönlichen Geschichte: Aus dem einen Jahr wurden schließlich sieben. Und während all dieser Jahre ist mir zunehmend deutlicher geworden, wie wichtig Israel ist, gerade in seiner Rolle als Übungsfeld der Versöhnung. Es war nicht eine blauäugige Begeisterung für die Schönheit des Landes, die mir Israel wichtig werden ließ. Obwohl es durchaus viel Schönes dort gibt. Es war auch nicht die besondere Heiligkeit der Menschen dort. Obwohl es durchaus viele Heilige gibt. Überhaupt waren es nicht nur die guten, schönen und beeindruckenden Seiten des Landes, die es mir wichtig machten. Sondern im Gegenteil, gerade seine Zerbrechlichkeit und Zerrissenheit.  „Dich hat der Herr, dein Gott, zum Eigentum erwählt aus allen Völkern. Nicht weil du größer wärest als alle Völker – denn ihr seid das Kleinste unter allen Völkern. Sondern weil er euch geliebt hat.“ (5. Mose 7,6-8). Hier, wie kaum sonst wo, ist mir deutlich geworden, wie sehr unsere Welt die Liebe Gottes und das Wort von der Versöhnung braucht. Und warum Gott seine Geschichte der Ver­söhnung gerade in diesem Land und mit diesem Volk schreibt. Hier möchte er durch­buchstabieren, wie Liebe wirksam wird und was Versöhnung bedeutet.  Gott hat sich mit seinem Wort an dieses Volk und dieses Land gebunden, er hat es sozusagen zum „Lackmus-Test“ für seine Treue gemacht: Wenn Versöhnung nicht nur ein leeres Wort ist, dann muss und wird sie sich auch hier, in diesem Land und an diesem Volk, erweisen. Und wenn sie sich hier nicht bewährt, dann fällt es schwer zu glauben, dass es anderswo möglich sein soll.

Ich glaube deshalb, dass Israel nach wie vor eine entscheidende Bedeutung für Gottes Weg mit dieser Welt hat. Christen unterscheiden hier gerne zwischen einer „Heilsbedeutung“ und einer anderen Bedeutung. Ich weiß nicht, ob das eine gute Unterscheidung ist. Aber wenn man so unterscheiden will, dann bin ich der festen Überzeugung, dass Gott sein Heil auch daran bindet, ob die Geschichte der Versöhnung im Hier und Jetzt, und auch in seinem Volk und seinem Land zu ihrem Ziel kommt.

Tragisch ist nur, dass diese Botschaft der Versöhnung heute so oft in Vergessenheit gerät, gerade dann, wenn es um Israel geht: Selten habe ich so viel Unversöhnlichkeit und Streitbereitschaft bei Christen erlebt wie während meiner Zeit in Israel. Vor allem unter solchen Christen, die aus dem Ausland nach Israel kamen. Und das gilt für beide Seiten: Für die Israel-Liebhaber wie für die Palästina-Kämpfer. In unserem Gästehaus hatten wir regelmäßig Gäste aus beiden „Lagern“. Weil wir ein christliches Haus waren, gingen beide Seiten meist davon aus, dass wir auf der „richtigen“, also auf ihrer Seite waren. Wie groß war dann oft die Überraschung, wenn sich beide Parteien am Frühstückstisch oder bei der Morgenandacht gegenübersaßen. Es lässt sich nicht mehr so gut streiten, wenn man schon brüderlich zusammen gebetet hat. Aber von der Überraschung war der Weg dann immer noch weit bis zur Versöhnlichkeit. Oft war die Botschaft der Rechthaberei oder der Schuldzuweisung dann doch lauter als die Botschaft der Versöhnung.

Das galt nicht nur in unserem Haus, sondern mit erschreckender Regelmäßigkeit auch bei Vorträgen, Konferenzen und Veranstaltungen, die wir besuchten. Man kann in Jerusalem fast jeden Abend irgendwo ein Angebot der sogenannten „Friedens- und Dialogindustrie“ besuchen. Immer geht es dabei um die Suche nach Frieden und Verständigung, zumindest in der Überschrift. Aber in den allermeisten Fällen ging man am Ende eines solchen Abends nicht friedlicher oder versöhnlicher, sondern zorniger und streitbereiter nach Hause. Denn zumeist ging es nicht um Versöhnlichkeit, sondern darum, das eigene Leiden und die Fehler des Anderen zu unterstreichen. Und das von der einen oder von der anderen Seite.

Auch im deutschen christlichen Blätter- und Predigtwald mache ich oft die gleiche Beob­achtung: Da ist viel die Rede von Recht und Unrecht, von Opfern und Tätern, von Guten und Bösen, von Wahrheit und Lüge. Aber nur ganz selten erklingt die Stimme der Versöhn­lichkeit. Die auf den anderen zugeht und versucht, ihn zu verstehen. Die nicht das eigene Recht sucht, sondern nach den Rechten des Gegners und Feines fragt. Die nicht auf die Fehler des anderen zeigt, sondern die eigenen Fehler einräumt. Die bereit ist, den Weg der Versöhnung zu gehen, auch wenn das bedeutet, den Weg des Kreuzes hinter Jesus her zu gehen.

Aber immer wieder habe ich, in Israel und auch hier, auch die Realität der Versöhnung aufblitzen sehen: In Gebetstreffen, in denen jüdische und arabische Gläubige gemeinsam Gottes Nähe gesucht haben, und trotz sehr unterschiedliche politischer Ansichten versöhnlich mit einander umgingen. In Gesprächsabenden, bei denen respektvoll und versöhnlich übereinander und miteinander geredet wurde. In Predigten, die nicht mit dem ausgestreckten Finger oder mit geballter Faust auf andere zeigten, sondern sich mit offenen Händen nach Gottes Hilfe ausstreckten. In den Gesichtern und Liedern von Teenagern, die zusammen ein Musical aufführten, obwohl sie von beiden Seiten der Grenze stammten.  Weil sie die Botschaft der Versöhnung gehört hatten, die vom Kreuz her erklingt. Sicher sind das alles nur kleine Zeichen der Hoffnung, in denen diese Botschaft irdische Gestalt gewonnen hat. Aber ich bin überzeugt, dass es genau das ist, was Gott für sein Volk und sein Land im Blick hatte. Damals, als er Abraham rief.

Warum mir Israel wichtig ist? Weil es Gottes Übungs- und Bewährungsfeld ist für die große Geschichte von der Versöhnung. Der Lackmustest, an dem sich die Realität der Versöhnung erweist. Das Spielfeld der Versöhnung, auf dem der Sieg schon errungen ist, aber der Schlusspfiff noch aussteht. Und weil Gott will, dass sein Wille geschieht. Nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde.

 

Gottes Bewährungsfeld der Versöhnung
Sieben Jahre vor Ort: Ein anderer Blick auf Israel
In: Aufatmen 2/2014, S. 42-45
01.04.2014

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