Politik der offenen Herzen: Christen im Nahostkonflikt

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Politik der offenen Herzen

Christen im Spannungsfeld des Nahostkonflikts

 

Wir waren auf dem Weg nach Hause von einem Lobpreisabend in Beit Jala, einem kleinen Ort in der Westbank unweit von Bethlehem. Meine Frau und ich teilten uns ein Taxi mit zwei Israelfreunden – überzeugte Christen – aus Deutschland. Hinter uns lagen erfüllte Stunden des gemeinsamen Gebets, wir hatten Lobpreislieder auf arabisch und englisch gesungen, bewegende Zeugnisse gehört und geistliche Gemeinschaft erlebt. Kaum hatten wir jedoch die Grenze nach Jerusalem passiert, schien das alles vergessen: Unsere Begleiter begannen uns von Gottes Fluch über „die Araber“ zu erzählen: Sie seien von jeher Feinde Gottes, und alle Araber seien Lügner. Verwundert fragte ich zurück, was denn nmit denen sei, bei denen wir gerade zu Gast waren. „Ach die“, war die Antwort mit einem Lächeln, „das waren doch keine richtigen Araber, das waren doch Christen.“

Szenenwechsel: Ein junger Mann – ebenfalls überzeugter Christ – sitzt bei uns am Frühstückstisch und macht seinem Ärger über „die Juden“ Luft: Sie seien Aggressoren und Unterdrücker, überhaupt seien sie die einzig Schuldigen an dem politischen Konflikt hier im Land. „Ich habe ja nichts gegen Juden an sich, nur dagegen, dass sie das ganze Land an sich reissen wollen“. Als ich ihm zu denken gebe, dass viele Menschen im sogenannten Dritten Reich genau dasselbe sagten, bekomme ich die Antwort: „Ja, ja, der Holocaust – damit will man hier doch auch nur auf die Tränendrüse drücken“.

Es ist schon erschreckend, wie das Thema „Israel“ manche Christen auf ganz eigenartige Weise verändert. Manchmal scheint es, als würden die wichtigsten Grundsätze eines christlichen Lebensstils hier in Jerusalem vergessen oder bewußt aufgegeben – zugunsten einer anderen, höheren Überzeugung. Christen, die zu Hause in Deutschland nie in der Gefahr wären, sich als Rassisten oder Antisemiten zu outen, spüren hier eine heilige Berufung, eben dies zu tun. Christen, die zu Hause brennende Missionare sind, treten in Israel gegen Mission ein. Christen, die zu Hause darüber klagen, dass in den Kirchen zu viel Politik gemacht wird, werden hier zu palästinensischen Freiheitskämpfern. Christen, die zu Hause begeistert von Jesus singen, sind hier bereit, Jesus zu verleugnen, um zum Judentum zu konvertieren. Und Christen, die zu Hause für den Frieden demonstrieren, verteidigen hier sogar indirekt Terroranschläge. Wie kann das sein?

Sicher hat es zu tun mit der Vielfalt der Eindrücke, die in Jerusalem über einen hereinbricht. Nirgendwo sonst auf der Welt kommen biblische Geschichte und Weltgeschichte, verschiedene Kulturen und Sprachen, Weltpolitik und Weltreligionen ähnlich dicht zusammen wie hier. Diese Vielfalt ist faszinierend, aber auch verwirrend. Je länge ich hier lebe, desto weniger glaube ich sie verstehen zu können. Und oft ist der einzige Weg, mit dieser Vielfalt zurechtzukommen, sie auf einen einfachen Nenner zu bringen. Man bildet sich pauschale Bilder über „die Juden“ oder „die Araber“, und man versucht gut und böse zuzuordnen. Aber die Antworten, die dabei herauskommen, sind nicht immer richtig.

Was mich aber am meisten wundert ist, dass diese Antworten so oft so weit entfernt sind von dem, was Jesus sagt. Oft scheint es so, als ob die Übermacht von Weltpolitik, Theologie und prophetischer Schau die einfachen Worte überlagert, die Jesus hier in diesem Land vor 2000 Jahren gesprochen und vorgelebt hat. Daher habe ich mir wieder angewöhnt, angesichts der komplizierten Probleme hier im Land die einfache Frage zu stellen: Was würde Jesus tun? Das führt nicht immer zu klaren Antworten, aber es schützt zumindest vor selbstgebastelten Irrwegen. Hier also einige dieser Worte Jesu, die uns Orientierung geben können:

1. „Richtet nicht!“

Viele Leute kommen nach Jerusalem, um „sich selbst ein Urteil zu bilden“. Sie wollen herausfinden, wer nun eigentlich schuld ist. Sie wollen wissen, wie sie die Menschen hier beurteilen sollen. Und sie wollen zurückgehen mit einer festen Meinung. Aber warum eigentlich? Jesus selbst hat darauf hingewiesen, wie unsinnig und unnötig das Urteilen über andere ist. Was hilft es uns, wenn wir wissen wer recht hat? Wer die Guten und die Bösen sind? Natürlich sind die Israelis schuld – ebenso wie die Palästinenser. Aus biblischer Sicht gibt es niemanden, der ohne Schuld ist – außer dem Einen. Aber was nützt es uns, das herauszufinden? Wenn es nach Jesus geht, ist der Balken im eigenen Auge allemal größer und wichtiger als der Splitter im Auge der Palästinenser oder der Israelis. Christen sollten es daher lernen, demütig hierher zu kommen, mit der Bereitschaft zu lernen. Nicht um Fronten zu verhärten, sondern um Klischees zu überwinden. Vielleicht ist es ja gar nicht unsere Aufgabe, zu richten oder ein Urteil zu sprechen.

2. „Liebet eure Feinde!“

Ich erinnere mich noch gut, dass dieses Wort von Jesus für mich früher immer etwas schwierig war – so richtige Feinde hatte ich ja nicht. Hier in Israel wird das Wort vom „Feind“ real: Nicht nur weil sich zwei verfeindete Völker im Krieg gegenüberstehen, sondern weil auch unter Christen die Risse der Feindschaft viel offener zu Tage treten als in Deutschland. Allzuoft funktioniert Liebe hier nur nach dem Prinzip „Wenn du mein Freund bist, musst du auch der Feind meiner Feinde sein!“. Aber wenn es nach Jesus geht, ist Liebe unsere erste und wichtigste Aufgabe gegenüber den Feinden. Nicht daran, wie lautstark ich meine Liebe zu meinen Freunden ausdrücke, zeigt sich also eine jesusgemässe Haltung. Denn was ist daran besonders? Das tun schliesslich auch die Zöllner und die Heiden. Eine jesusgemässe Haltung zeigt sich vielmehr daran, wie ich zu den Feinden meiner Freunde stehe: Wie ich über sie denke, wie ich über sie rede und wie lautstark ich meine Liebe zu ihnen ausdrücke. Würden Christen auf beiden Seiten sich dieser Messlatte öfter stellen, wäre für den Konflikt hier im Land schon viel gewonnen. Nicht Hass, Überheblichkeit oder Rechthaberei ist angesagt, sondern Liebe. Und das nicht nur gegenüber den Palästinensern oder Israelis, sondern vor allem auch gegenüber den Christen, die scheinbar „auf der Seite des Feindes“ stehen. Das ist vielleicht sogar die schwierigere Aufgabe.

3. „Betet für die, die euch verfolgen“

Gebet für einander und für die Feinde ist ein Schlüssel hier im Land. Wir machen diese Erfahrung an so vielen Orten. Bei den täglichen Gebetszeiten bei uns im Haus, an denen unsere Hausgemeinschaft und auch unsere Gäste teilnehmen, beten wir für das Land und die Menschen hier im Land. Beim anschließenden gemeinsamen Frühstück gehen die Ansichten über Politik oder Theologie schon mal weit auseinander. Aber beim Gebet finden wir zusammen und stehen vor Gott ein für das, was ihm auf dem Herzen liegt. Im Gebet ist kein Platz für politische Propaganda oder theologischen Schlagabtausch, denn Gott sieht in unser Herz. Einmal in der Woche treffen wir uns mit einigen jüdischen und arabischen Geschwistern zum gemeinsamen Gebet – und hier wird das Gebet für die „Feinde“ ganz praktisch und wir sehen, wie das es Grenzen überwindet. Wenn hier die jüdischen Geschwister für die Palästinenser beten oder die arabischen Geschwister für Israel, dann entdecke ich darin etwas von dem, was Jesus mit diesem Wort meinte. Natürlich sind wir auch hier nicht immer alle einer Meinung, aber gemeinsam können wir für die Menschen beten – auch für die, die anders denken als wir.

4. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“

Es ist eigenartig, wie wenig Interesse Jesus für tagespolitische Fragen gezeigt hat. Dabei lebte er in einer Zeit, die in ihrer politischen Brisanz der heutigen kaum etwas nachstand: Angefangen beim Kampf der Zeloten für einen unabhängigen Staat Israel, über die Problematik einer Militärbesatzung bis hin zu den ethnischen Spannungen zwischen Juden, Samaritern und Heidenvölkern, die sich das Land teilten. Alle politischen Fragen, die sich heute stellen, waren auch damals aktuell. Und doch ist Jesus kaum auf sie eingegangen. Im Gegenteil: Dem Volk, das ihn zum König eines neuen Israel machen wollte, entzog er sich. Und Petrus, der das Schwert gegen die römischen Besatzer erhob, wies er scharf zurecht. Jesus hatte keine erkennbare politische Agenda. Er war ein König, aber ohne politische Macht in dieser Welt. Ihm ging es um die Herzen der Menschen, ganz egal ob sie zu den Mächtigen oder den Ohnmächtigen gehörten, und ganz egal, welcher Volksgruppe sie angehörten. Er wandte sich Juden, Heiden und Samaritern mit der gleichen ungeteilten Liebe zu, und debattierte nicht mit ihnen über Landrechte. Er diskutierte mit den römischen Soldaten nicht über die Rechtmässigkeit der Besatzung, sondern heilte ihre Söhne und Knechte.

Ich glaube nicht, daß Jesus ein unpolitischer Mensch war. Im Gegenteil: Vielleicht war er sogar der weiseste Politiker der Welt. Denn er wußte, daß die wichtigen politischen Fragen nicht durch die Mächtigen dieser Welt entschieden werden, sondern durch eine Veränderung der Herzen. Hier in Israel ist oft eine entgegengesetzte Verschiebung der Prioritäten festzustellen: Während für die meisten Christen in Deutschland Glaubensgrundsätze wichtiger sind als politische Grundsätze, kehrt sich dieses Verhältnis um, wenn sie nach Israel kommen. Politische Fragen werden hier wichtiger als Glaubensfragen, und die Reiche dieser Welt werden wichtiger als das Reich Gottes. In Deutschland können Christen unterschiedlicher politischer Überzeugung jahrelang nebeneinader im Gottesdienst sitzen, ohne überhaupt zu wissen, dass sie am Wahlsonntag ihr Kreuzchen verschieden machen. Aber hier in Israel ist die Frage nach meiner politischen Überzeugung oft die allererste, und sie ist vielen wichtiger als meine Beziehung zu Jesus. Auf beiden Seiten sucht man gern die Allianz mit politisch Gleichgesinnten, auch wenn diese dem christlichen Glauben entgegenstehen. Aber man meidet den Kontakt zu Glaubensgeschwistern, wenn diese eine andere politische Überzeugung haben. Würde Jesus auch so handeln?

5. „Machet zu Jüngern alle Völker!“

Jesus hatte eine klare Priorität in seinem Leben: Das Evangelium zu predigen und Menschen in seine Nachfolge zu rufen. Und das war es auch, was er seinen Jüngern als Auftrag anvertraute, als er zu seinem Vater zurückkehrte. Wenn wir uns als Christen fragen, was unsere Rolle im Nahostkonflikt ist, dann sollten wir uns an diese Priorität halten. Und an das Vorbild der ersten Gemeinde, von der die Apostelgeschichte berichtet: Inmitten aller politischen Turbulenzen ihrer Zeit hielt sie fest an ihrem Auftrag, verkündete das Evangelium, heilte die Kranken, blieb standhaft im Gebet und suchte die Gemeinschaft der Geschwister. Auch wenn es den jüdischen Geschwistern anfangs schwer fiel zu akzeptieren, dass auch die Samariter und sogar die Heiden ihre Geschwister waren, wurden sie sich sehr bald einig, dass dies Gottes Ziel für ihr Land und ihr Volk war: Eine Gemeinde aus Juden und Nichtjuden, ohne einen Zaun der Trennung, vereint in ihrer Beziehung zu Jesus, dem Messias Israels und dem Retter der Welt.

Heute gibt es in Israel für Christen viele wichtige Aufgaben. Dazu zählen sicher auch soziale und politische Dienste, diakonische Hilfe und Studienarbeit. Und es ist großartig zu sehen, wie viele Christen – vor allem junge Leute – Jahr für Jahr nach Israel kommen, um solche Dienste zu leisten, sei es auf der israelischen oder auf der palästinensichen Seite. Dennoch sollten wir als Christen neben all diesen wichtigen Aufgaben nie die wichtigste vergessen oder in den Hintergrund drängen: Gottes Auftrag, seine Gemeinde zu bauen, eine Gemeinde aus Juden und Nichtjuden. Überall auf der Welt, aber auch und gerade hier in Israel.

Was würde Jesus tun?

Es ist nicht immer leicht, auf diese Frage eine einfache Antwort zu finden. Es geht auch nicht darum, dass wir alle das gleiche tun. Manche von uns ruft Jesus dazu, den Juden zu dienen. Andere ruft er, den Palästinensern zu dienen. Manche ruft er in soziale Dienste, andere in den Gebetsdienst, wieder andere zu missionarischer Arbeit. Wohin auch immer Gott uns ruft, da sollten wir hingehen und Jesus folgen. Aber wir sollten nie die eigene Berufung so wichtig nehmen, daß wir die Berufung eines anderen verachten oder ablehnen. Und wir sollten unserer Berufung immer auf eine jesusgemässe Weise folgen, indem wir fragen: Was würde Jesus tun?

Für dieses Land wünsche ich mir, daß hier eines Tages die Vision Realität wird, von der die Bibel redet: Daß Juden und Nichtjuden hier in Frieden und Einheit zusammen leben können. Allerdings glaube ich nicht daran, dass das durch Friedensverträge oder politische Abkommen erreicht wird, sondern durch eine Veränderung der Herzen. Erst dann wird der Zaun zwischen beiden überwunden, wenn beide, Juden wie Nichtjuden, sich dem Messias Jesus zuwenden. Dass das geschieht, darauf sollten wir all unsere Kraft und all unser Gebet verwenden. Und bis es geschieht, müssen wir mit politischen Zwischenlösungen leben, die für beide Seiten unbefriedigend bleiben werden. Das Reich Gottes jedenfalls wird nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch Seinen Geist kommen. So steht es schon jetzt prophetisch im Staatswappen Israels.

(ursprünglich erschienen in: Neues Leben Magazin, April 2005, S. 40-43. Original-Artikel hier herunterladen)

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