Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit im Widerstreit

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Einblicke in jüdische Gottesbilder der Zeit Jesu

Der Begriff „Gerechtigkeit“ ist den vergangenen Jahrzehnten wieder zu neuem Ansehen gelangt. Vor allem in gesellschaftlichen Prozessen ist die Forderung nach Gerechtigkeit allgegenwärtig: Soziale Gerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Gender-Gerechtigkeit und ganz allgemein der Traum von einer gerechteren Welt. Die großen Kirchen betreiben, angestoßen durch eine Rede des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker auf dem Kirchentag 1985, seit nunmehr einem Vierteljahrhundert einen „konziliaren Prozeß“ für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Während aber der Begriff der Gerechtigkeit im Blick auf gesellschaftliche Realitäten eine Rennaissance erlebt, tritt er im Blick auf unser Gottesbild mehr und mehr in den Hintergrund. Gerechtigkeit als ein Wesenszug Gottes ist in unserer Zeit unpopulär geworden. Bilder vom liebevollen Vater, vom fürsorglichen Freund, vom guten Hirten und vom barmherzigen Erlöser erfreuen sich in Predigten und Gemeindestunden weit größerer Beliebtheit. Biblische Bilder vom gerechten Richter, vom eifersüchtigen Gott und vom strafenden Herrscher werden allenfalls verschämt in den Hinterzimmern der Gemeinden verhandelt, weil man nicht recht weißt, wie damit umzugehen ist.

Woran liegt das? Ist es Gott selbst, der sich gewandelt hat? Haben die Autoren der Bibel ihn vielleicht von Anfang an falsch verstanden? Oder hat sich nur unser Bild von Gott den Erfordernissen der Zeit angeglichen? Wenn das letztere zutrifft, dann muss aber auch gefragt werden: Sollte nicht gerade in einer Zeit, die so lautstark nach Gerechtigkeit ruft, auch die Rede von der der Gerechtigkeit Gottes wieder ganz neu ins Gespräch gebracht werden?

Ein Gott des Alten und ein Gott des Neuen Testaments – oder der eine Gott der ganzen Bibel?

Der Gegensatz der biblischen Gottesbilder, das Bild eines barmherzigen und liebenden Vaters einerseits und eines gerechten und strafenden Richters andererseits, wird in vielen christlichen Köpfen bis heute aus einem vermeintlichen Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament erklärt: Nicht selten spricht man sogar vom „Gott des Alten Testaments“ im Gegensatz zum „Vater Jesu Christi“. Die Rollenverteilung ist dabei meist sehr eindeutig: Der Gott des Alten Testaments ist gerecht und heilig, der Vater Jesu Christi aber ist barmherzig und liebevoll. Der Gott des Alten Testaments ist zornig und eifersüchtig, der Vater Jesu Christi gnädig und voller Vergebung. Im Alten Testament gibt es kein Entrinnen vor dem Zorn Gottes, und erst seit Jesus ist Vergebung und Gnade möglich. Gott muss sich also, so die Annahme, auf dem Weg gewandelt haben. Vielleicht ist er über seinen eigenen Schatten gesprungen, oder er hat eingesehen, dass sein Weg mit Israel eine Sackgasse war. So führt diese Aufteilung der Gottesbilder also unweigerlich zu einer Trennung des gerechten vom gnädigen Gott, zu einer Trennung des Neuen vom Alten Testament und zu einer Trennung von Judentum und Christentum. Wohin eine solche Trennung am Ende führt, hat das letzte Jahrhundert in erschreckender Weise gezeigt.

Schon ein flüchtiger Blick in die Bibel zeigt jedoch, dass dieser Weg in die Irre führt: Denn die gegensätzlichen Bilder von Gott lassen sich sauber nicht auf die verschiedenen Teile der Bibel aufteilen, wie das gerne versucht wird. Im Gegenteil: Im Neuen Testament ist die Rede von der Gerechtigkeit Gottes fast noch zentraler als im Alten Testament, während es wohl kaum schönere Beschreibungen der Gnade und Barmherzigkeit eines liebenden Vaters gibt als etwa in Psalm 103. Die beiden, scheinbar gegensätzlichen, Seiten Gottes ziehen sich vom Anfang bis zum Ende der Bibel durch, ein Unterschied oder eine Veränderung ist hier kaum zu erkennen.

Jüdische Traditionen von den „Wesenszügen Gottes“

Für das Judentum der Zeit Jesu war es ein zentrales Anliegen, die beiden scheinbar gegensätzlichen Wesenszüge Gottes zusammenzuhalten. Wir wissen davon aus der umfangreichen Literatur, die uns das rabbinische Judentum hinterlassen hat. Zwar stammen viele dieser Schriften erst aus viel späterer Zeit. Sie enthalten aber nicht selten altes Material, das auch in die Zeit Jesu zurückreicht. Und sie können uns deswegen helfen,  das Neue Testament und seine Zeit besser zu verstehen.

Die Gegensätzlichkeit der Gottesbilder in der Bibel war auch den jüdischen Lehrern der Zeit Jesu nicht entgangen. Anders als das moderne westliche Denken versuchte die jüdische Bibelauslegung aber diese Gegensätze nicht auseinander zu reißen oder weg zu erklären. Im Gegenteil: Gerade in diesem Gegensatz sah man eine wichtige Herausforderung für den Glauben. So entstand mit der Zeit die Tradition von den verschiedenen „Wesenszügen“ oder „Handlungsweisen“ Gottes (hebr. middot, von middah = “Maß“). Ihren Ursprung nahm sie in der Gottesoffenbarung am Berg Sinai. Hier, wo Moses die Zehn Gebote aus der Hand Gottes empfing, hatte er eine einzigartige Begegnung mit Gott, in der ihm Gottes Charakter offenbart wurde:

„Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“ (2. Mose 34,6-7)

In diesen Worten findet die spätere jüdische Auslegung insgesamt 13 verschiedene Aussagen über die Wesenszüge Gottes. Die genaue Aufteilung variiert dabei, ist aber auch gar nicht wo wichtig. Auch gibt es einen Streit darüber, ob es sich hier wirklich um „Wesenszüge“ handelt (also Charaktereigenschaften Gottes) oder eher um „Handlungsweisen“ (also die Art und Weise, wie er sich der Welt zeigt). Aber auch diesen Streit kann man getrost den Theologen überlassen. Die „13 Wesenszüge Gottes“ jedenfalls spielen bis heute, zum Beispiel in den Gebeten und Gottesdiensten zum jüdischen Neujahrsfest und dem großen Versöhnungstag, eine zentrale Rolle im jüdischen Glauben.

In den ganz frühen Traditionen, die teilweise auch schon in die Zeit Jesu zurückreichen, stehen jedoch vor allem zwei Wesenszüge im Vordergrund: Gottes Barmherzigkeit und Gottes Gerechtigkeit (hebr. middat ha-rachamim, das „Maß der Barmherzigkeit“, und middat ha-din, das „Maß der Gerechtigkeit“). Gottes Barmherzigkeit zeigt sich darin, dass er Schuld vergibt, geduldig ist, gnädig und treu. Seine Gerechtigkeit aber zeigt sich darin, dass er Sünde nicht ungestraft lässt.

Die zwei Namen Gottes

Dass diese beiden widerstreitenden Wesenszüge Gottes aber untrennbar miteinander verbunden sind, wird nicht nur bei der Gottesoffenbarung am Sinai deutlich, sondern überall in der Bibel. In der jüdischen Bibelauslegung werden die zwei Wesenszüge dabei eng mit den beiden Namen Gottes verbunden, die auch in 2. Mose 34, 6-7 am Anfang stehen: „HERR“ (im Hebräischen steht hier der Gottesname JHWH) und „Gott“ (im hebräischen elohim). Die jeweilige Verwendung des Gottesnamens wird dabei als ein Hinweis auf den Wesenszug Gottes verstanden, der damit hervorgehoben werden soll:

„Rabbi Samuel ben Nachman (3. Jh.) sagte: Wo immer JHWH geschrieben steht, bezeichnet dies das Maß der Barmherzigkeit. Wo immer GOTT geschrieben steht, bezeichnet dies das Maß der Gerechtigkeit“ (Midrasch Rabba zu Gen 30,22)

Das Mit- und Nebeneinander von „HERR“ und „Gott“, von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, beginnt dabei nach rabbinischer Auslegung bereits bei der Schöpfung der Welt. Schon hier ringt Gott mit sich selbst, ob der die Welt nach dem Maß der Gerechtigkeit oder nach dem Maß der Barmherzigkeit erschaffen soll:

„Warum heißt es: ‚Am Tag, als GOTT, der HERR, Himmel und Erde erschuf‘ (Gen 2,4)? Rabbi Hanina (ca. 250 n.Chr.) sagte: Als der Heilige die Welt erschaffen wollte,  sah er die Taten der Bösen voraus. Da wollte er die Welt zuerst nicht mehr erschaffen. Dann aber sah er die Taten der Gerechten voraus, und er bedauerte seinen Entschluss. Er sagte sich: Sollte ich die Welt nicht erschaffen, nur wegen der Taten der Bösen? Nein, ich werde sie dennoch erschaffen, und wenn dann jemand sündigt, werde ich ihn bestrafen. So wollte er also zuerst die Welt nach dem Maß der Gerechtigkeit erschaffen, konnte es aber nicht, weil er es damit selbst für die Gerechten zu schwer machen würde. Dann wollte sie erschaffen nach dem Maß der Barmherzigkeit, aber auch das konnte er nicht, weil er es damit für die Bösen zu einfach machen würde. Was also tat er? Er verband beide miteinander, das Maß der Gerechtigkeit und das Maß der Barmherzigkeit und erschuf die Welt. Deshalb steht am Anfang der Bibel geschrieben: ‚Am Tag, als GOTT, der HERR, Himmel und Erde erschuf’“ (Pesikta Rabbati 40,1-2)

In einem anderen Gleichnis wird dieses Ringen Gottes um die richtige Mischung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit noch plastischer beschrieben: „Ein Gleichnis von einem König, der zwei leere Gläser hatte. Er sagte sich: Wenn ich nur heißes Wasser hineingieße, werden die Gläser zerspringen. Wenn ich nur eiskaltes Wasser hineingieße, werden sie auch platzen. Was also tat er? Er mischte zuerst heißes und kaltes Wasser und goss es dann hinein. So überstanden es die Gläser. Ebenso sagte der Heilige, gepriesen sei er: Wenn ich die Welt nur nach dem Maß der Barmherzigkeit erschaffe, dann wird die Sünde überhand nehmen. Wenn ich sie nur nach dem Maß der Gerechtigkeit erschaffe, wie kann sie dann bestehen? Siehe, ich werde sie nach dem Maß der Barmherzigkeit und dem Maß des Rechts erschaffen, dann wird sie bestehen können!“ (Midrasch Rabba zu Gen 2,4)

„Ein König kam, Abrechnung zu halten…“

Am deutlichsten tritt die Spannung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in den jüdischen Bildern vom Gericht Gottes zu Tage. Im Denken der rabbinischen Lehrer war das Gericht dabei weniger etwas, was irgendwann einmal am Ende der Zeiten geschieht. Stattdessen sollte sich jeder Mensch einmal im Jahr dem Gericht Gottes stellen, und zwar am Ende des Jahres: Nach dem jüdischen Kalender fällt das Neujahrsfest in den September oder Oktober. Dies ist der Tag, an dem „der König kommt, um Abrechnung mit seinen Knechten zu halten“ – eine Situation, von der auch Jesus oft in seinen Gleichnissen spricht. An diesem Tag werden die Bücher des Lebens aufgetan:

„Rabbi Kruspedai sagte im Namen von Rabbi Johanan (ca. 250 n.Chr.): Drei Bücher werden am Neujahrsfeste aufgeschlagen: eines für die völlig Gottlosen, eines für die völlig Frommen und eines für die Mittelmäßigen. Die völlig Frommen werden sofort zum Leben aufgeschrieben und besiegelt, die völlig Gottlosen werden sofort zum Tode aufgeschrieben und besiegelt, und die Mittelmäßigen bleiben vom Neujahrstag bis zum Versöhnungstag in der Schwebe; haben sie sich verdient gemacht, so werden sie zum Leben aufgeschrieben, haben sie sich nicht verdient gemacht, so werden sie zum Tode aufgeschrieben.“ (Babylonischer Talmud, Rosh Hashana 16b-17a)

Dieses jährliche Gericht wird in der jüdischen Tradition bis heute sehr ernst genommen: Schon der ganze letzte Monat des alten Jahres ist ein Fasten- und Gebetsmonat, eine Zeit, in der selbst die wenig Religiösen in sich gehen. Man hält Rückblick auf das vergangene Jahr und macht seine persönliche Abrechnung über Gutes und Schlechtes, Gelungenes und Mißlungenes. Man söhnt sich mit seinen Freunden und Nachbarn aus, mein schreibt Karten an die Familie und versucht sein Leben in Ordnung zu bringen. Es gilt: Was man mit seinem Nächsten klären kann, soll man auf direktem Weg tun. Erst dann soll man vor Gott treten und ihn um Vergebung bitten für das, was man nur mit Gott selbst klären kann. Auch hierzu erzählen die Rabbinen ein Gleichnis:

„Womit ist diese Sache zu vergleichen? Mit einem König, der zu seinen Knechten sagte: Geht hinaus und verkündet in meinem ganzen Königreich, dass ich zuerst zu Gericht sitzen werde über Geldsachen. Jeder, der eine Rechtssache gegen seinen Bruder hat, kann in dieser Zeit zu mir kommen und ich werde ihn wohlgefällig richten. Erst danach werde ich zu Gericht sitzen über Fragen von Leben und Tod.“ (Pesikta de Rav Kahana Anhang 7,2)

Viele jüdische Gleichnisse beschreiben diesen Gerichtstag mit dem Bild eines Königs, der in eine Stadt einreitet, um dort Gerichtstag zu halten und von einer Stadt den Tribut zu fordern, der ihm zusteht. Es ist vermutlich dieser Hintergrund, vor dem auch Jesus, ganz in der Tradition jüdischer Lehrer, seine Gleichnisse erzählt, etwa das Gleichnis von der Trennung der Schafe und Böcke (Mt 25,31-46), oder das Gleichnis von dem Knecht, der am Tag der Abrechnung keinen Freispruch erfährt, weil er selbst nicht bereit war, Schulden zu erlassen (Mt. 18,23-34). Hierher gehört auch die Warnung, sich mit dem Bruder zu versöhnen, bevor man zum Altar geht (Mt 5,23-24). Aber auch der triumphale Einzug nach Jerusalem rief in den Köpfen der Menschen sicher das Bild des Königs hervor, der kommt, um Abrechnung zu halten.

Der Zyklus der jüdischen Herbstfeste

Im jüdischen Kalender folgt auf den Fastenmonat der Neujahrstag. An ihm wird Jahr für Jahr das Gericht gehalten. In Gottesdienst und Gebet tritt die Gemeinde vor Gott und erinnert ihn an die dreizehn Wesenszüge, seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit. Die drei Bücher werden im Himmel aufgetan, und die Namen der Menschen werden eingetragen. Da aber die wenigsten Menschen sich zu den „völlig Gerechten“ oder zu den „ganz und gar Bösen“ zählen, beginnt mit dem Neujahrstag zugleich die Zeit der Umkehr: Die Namen der meisten Menschen werden in das mittlere Buch geschrieben, und für sie bleiben nun noch zehn Tage Zeit, bis am großen Versöhnungstag zehn Tage später das endgültige Urteil gesprochen wird. In dieser Zeit gibt Gott noch einmal die Gelegenheit zur Umkehr. Noch ist er der „HERR“, und man kann zu ihm umkehren, bevor er dann als „GOTT“ auf den Thron des Richters steigt. So jedenfalls wird verschiedentlich der Vers Hosea 14,2 ausgelegt:

„Der Heilige, gepriesen sei er, hat Gefallen an der Umkehr und nicht daran, seine Geschöpfe zu töten. Denn es steht geschrieben: ‚Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.‘ (Ez 33,11) So ruft der Heilige, gepriesen sei er, sie zur Umkehr, damit sie leben. Ja, er sagt zu Israel: Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder! (Jer 3,22). Er sagt zu ihnen: Tut Buße, damit ich nicht zurückkehren muss zum Maß der Gerechtigkeit, und euch, ich weiß nicht was, antue. Sondern tut Buße, damit ich stattdessen beim Maß der Barmherzigkeit bleibe, und euch annehmen kann. Woher wissen wir das? Aus dem, was in der Prophetenlesung steht: ‚Kehre um, solange dein GOTT noch der HERR ist.‘ (Hos 14,2)“ (Pesikta Rabbati 40,1)

Gebet, Fasten und Werke der Barmherzigkeit (z.B. Almosen) können das Urteil in dieser Zeit noch wenden. Interessant ist auch hier, dass Jesus genau zu diesen drei Themen ausführlich in der Bergpredigt Stellung nimmt (Mt. 6,1-18). Gottes Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit ringen in dieser Phase miteinander: Gott möchte gerne vergeben, aber er will auch ein gerechtes Urteil sprechen. Im bevorstehenden Gericht stehen also nicht nur wir als Menschen auf dem Prüfstand, sondern auch Gott selbst: Wir er seinem Wesen als barmherziger Vater und als gerechter Richter treu bleiben? Oder wird er das eine zugunsten des anderen aufgeben? Wird Gott am Ende immer noch „recht behalten in seinen Worten und rein dastehen, wenn er richtet“ (Ps. 51,6)? In den rabbinischen Gleichnissen hofft Gott deshalb – fast verzweifelt – auf die Umkehr seiner Kinder. Er steht, bildlich gesprochen, am Fenster des Himmels und wartet darauf, dass wir zu ihm umkehren:

„Gott sagt: Am Neujahrsfest entscheide ich über Leben und Tod. Wenn ihr aber Buße tut vor mir, dann werde ich euch erhören und euch wohlgefällig richten. Die Tore des Himmels stehen offen, und ich höre auf eure Gebete, halte Ausschau durch die Fenster und spähe durch die Gitter, so lange bis ich am Versöhnungstag das endgültige Urteil sprechen muss.“ (Pesikta de Rav Kahana, Anhang 7,2)

Gottes Ringen um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

In mehreren Gleichnissen der Rabbinen wird Gott als ein König dargestellt, der ein gerechtes Urteil über seinen eigenen Sohn fällen soll. Der Sohn ist dabei natürlich ein Sinnbild für das Volk Israel, das in der Bibel mehrfach als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird:

„Gleichnis von einem Königssohn, der zum Gericht vor seinem Vater erscheinen musste. Man sagte zu ihm: Flehe zu deinem Vater, solange er noch in seinem Palast ist, solange er noch nicht auf seinem Richterstuhl sitzt und über dich nach dem Maß der Gerechtigkeit urteilen muss. Deshalb sagt Hosea: ‚Kehre um, Israel, solange dein GOTT noch der HERR ist‘ (Hos. 14,2). Das heißt: Tut Buße, solange er noch nach dem Maß der Barmherzigkeit urteilt! Denn der Heilige, gepriesen sei er, ist gnädig und barmherzig und will Buße, damit er nicht über sie das Maß der Gerechtigkeit ausüben muss.“ (Pesikta Rabbati 44,9)

„Womit ist die Sache zu vergleichen? Mit einem König, der seinem Sohn zürnte. Weil er gerade ein indisches Schwert in der Hand hielt, schwor er, dieses seinem Sohn auf den Kopf zu schlagen. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er sich: Wenn ich ihm mit dem Schwert auf den Kopf schlage, wird er es nicht überleben, und es wird niemanden geben, der mein Königreich erbt. Aber ich kann auch meinen Beschluss nicht zurücknehmen. Was also tat der König? Er steckte sein Schwert in die Scheide und schlug seinem Sohn dann damit auf den Kopf. So wurde sein Sohn verschont, und gleichzeitig blieb sein Beschluss bestehen.“ (Midrasch Tehillim zu Ps. 6,2)

Es wird deutlich, dass hinter diesen jüdischen Überlieferungen das ernsthafte Bemühen steht, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes in eins zu sehen und nicht voneinander zu trennen: Gott selbst ist es, der darum ringt, gerecht und doch gnädig zu sein. Denn es ist seine eigene Gerechtigkeit, die am Tag des Gerichts auf dem Spiel steht, wenn er kein gerechtes Urteil spricht. Und es ist seine eigene Barmherzigkeit, die in Frage steht, wenn es ihm nicht gelingt, das gerechte Urteil zu wenden. Deshalb sucht Gott nach Wegen, seinen geliebten Sohn, das Volk Israel, zur Umkehr zu bewegen.

Jesu Botschaft von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

Vor diesem Hintergrund steht vieles, wovon wir im Neuen Testament lesen: Angefangen von Johannes dem Täufer, der das Volk zur Umkehr ruft angesichts des bevorstehenden Gerichtes. Über die Gleichnisse Jesu, die vom Suchen des Verlorenen handeln. Die Gleichnisse, die von der bevorstehenden Rückkehr des Königs und von seiner kommenden Herrschaft sprechen. Die Bergpredigt, die zu einem Leben in der Umkehr einlädt, dass (auch) durch ernsthaftes Gebet, Fasten und Almosen geprägt ist, aber mehr noch durch Feindesliebe, Ehrlichkeit, Vertrauen, das Trachten nach der Herrschaft des kommenden Königs und nach seiner – Gerechtigkeit (Mt. 6,33).

Vor diesem Hintergrund wird aber auch deutlich, warum der Weg Jesu ans Kreuz führte: Beim letzten Passamahl mit seinen Jüngern spricht Jesus von seinem Blut, das vergossen wird „zur Vergebung der Sünden“. Damit bringt er unerwartet Bilder vom großen Versöhnungstag in die Feier des Passafestes hinein. Er macht deutlich: Das Fest, das eigentlich ein Rückblick auf die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens sein wollte, wird so zu einem Fest der Versöhnung und des Freispruchs vom drohenden Urteil des Gerichts. Das Passafest wird zum Versöhnungstag. Der König selbst, der noch kurz zuvor triumphal in die Stadt geritten kam, um Abrechnung zu halten, gibt selbst sein Leben, um die ausstehende Schuld zu bezahlen. Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit kommen zu zusammen am Kreuz, wo der König selbst sich dem Gericht stellt.

Das Kreuz Jesu ist die Antwort, die das Neue Testament gibt auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit Gottes und seiner Barmherzigkeit. Es ist eine Antwort, um die auch die jüdischen Rabbinen in ihren Bibelauslegungen und Gleichnissen gerungen haben. In vielen Gleichnissen wird eine ähnliche Antwort erhofft und erwartet: Gott selbst ringt darum, als gerechter Richter auch Barmherzigkeit zu zeigen, ohne sich selbst damit untreu zu werden. In den Gleichnissen, die oben zitiert wurden, wird dies bereits deutlich. Am deutlichsten aber wird es vielleicht in dem folgenden rabbinischen Gleichnis:

“Jemand schuldete dem König 100 Goldtaler. Der König schickte ihm einen Boten und ließ ihm sagen: Komm, mache deine Abrechnung mit dem König! Der aber hatte Angst. Da schickte der König einen zweiten Boten, und ließ ihm wieder sagen: Komm, mache deine Abrechnung mit dem König; Da hatte er noch immer Angst. Was tat also der König? In der Nacht erhob er sich, nahm seinen Beutel, legte 100 Goldtaler hinein und warf ihn dem Schuldner durchs Fenster. Der stand auf, nahm den Beutel und begann, sich zu freuen. Darauf schickte der König ihm einen weiteren König und sagte ihm: Komm, mach deine Abrechnung mit dem König! Dieses Mal kam er und bezahlte seine Schuld. So beglich der Arme seine Schuld, und der König bekam zurück, was ihm gehörte” (Jalkut Shimoni 1,398)

Der König selbst bezahlt die Schuld, unerkannt und verborgen. Und gerade darin erweist sich seine Gerechtigkeit. Hier schimmert eine Hoffnung und eine mögliche Antwort auf die drängende Frage nach der Gerechtigkeit Gottes durch. Eine Antwort, die der des Neuen Testamentes sehr ähnlich ist.

Paulus und die Frage nach der Rechtfertigung Gottes

Der Apostel Paulus, selbst Schüler eines bekannten jüdischen Rabbis, stellt in seinen Briefen immer wieder die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Am prägnantesten ist seine Antwort im Römerbrief, wo er, ganz wie Jesus selbst, die Gerechtigkeit Gottes, den großen Versöhnungstag und das Kreuz Jesu zueinander in Verbindung setzt (Röm 3,21-26). Seit der Reformationszeit sind wir es gewohnt, diese Verse vor allem als Antwort auf die Frage nach unserer eigenen Gerechtigkeit und Rechtfertigung zu lesen. Wenn wir aber genau hinsehen, geht es hier gar nicht vorrangig um unsere Gerechtigkeit, sondern um Gottes Gerechtigkeit: Diese nämlich, so Paulus, erweist sich da, wo der gesalbte König selbst in Treue den Weg ans Kreuz geht und dort Versöhnung schafft durch sein Blut. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes findet hier eine überraschende, aber endgültige Antwort:

„Nun aber ist, ganz unabhängig vom Gesetz, die Gerechtigkeit Gottes offen sichtbar geworden, von der schon das Gesetz und die Propheten reden: die Gerechtigkeit Gottes, die durch die Glaubenstreue Jesu Christi zu allen kommt, die auf ihn vertrauen. (…) Ihn hat Gott durch seine Glaubenstreue hingestellt als Ort der Versöhnung in seinem Blut. So hat Gott seine Gerechtigkeit bewiesen. Er hat die Sünden vergeben, die begangen wurden während der Zeit, in der er noch voller Geduld gewartet hat. Und so beweist er seine Gerechtigkeit in unserer Zeit: Nämlich, dass er selbst gerecht ist und auch die gerecht macht, die sich in Glaubenstreue an Jesus festmachen, der ja selbst Glaubenstreue erwiesen hat.“ (Röm 3,21-26)

In einer Welt, die unüberhörbar nach Gerechtigkeit schreit, ist die Botschaft von einem gerechten Gott kein unbequemer Störfaktor. Im Gegenteil: Würde Gott nicht nach dem „Maß der Gerechtigkeit“ urteilen, dann behielte die schreiende Ungerechtigkeit in unserer Welt am Ende das letzte Wort. Ohne das „Maß der Barmherzigkeit“ jedoch wird die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit schnell zur gnadenlosen Überforderung. Nur wo wir, wie die jüdischen Rabbinen, wie Jesus und wie Paulus, beides zusammenbringen, gibt es Versöhnung und eine wirkliche Veränderung unserer Welt.


Quelle: Einblicke in jüdische Gottesbilder zur Zeit Jesu – mbs Jahrbuch 2009

(Original-Artikel hier als PDF herunterladen).

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