Eigenartig oder einzigartig?

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Jesus, der fremde Jude (Teil 4)

Eine persönliche Entdeckungsreise habe ich in den vergangenen Ausgaben von Faszination Bibel beschrieben: Ich habe davon erzählt, wie ich Jesus als Juden kennen und schätzen gelernt habe. Viele Leser haben sich für diese Einblicke bedankt und sie als anregend empfunden. Aber es kamen auch immer wieder Stimmen von Lesern, die irritiert oder verunsichert waren. Manche wiesen darauf hin, dass Jesus auch sehr harsche Worte gegen Juden fand (z.B. in Matthäus 23 oder in Johannes 8,44). Andere fragten sich, ob Jesus, der Sohn Gottes, wirklich von irdischen Lehrern seiner Zeit etwas gelernt haben kann. In unserem Internet-Forum formulierte jemand die Frage ganz pointiert: Soll Jesus nun etwa nicht mehr der Messias sein?

Hinter solchen Fragen steht die Befürchtung, dass Jesus seine Einzigartigkeit verliert, wenn wir Gemeinsamkeiten entdecken zwischen ihm und den jüdischen Menschen seiner Zeit. Dass er an Wert verliert, wenn er ein Jude war wie seine Zeitgenossen auch. Und dass ein „jüdischer“ Jesus am Ende weniger „christlich“ ist. Aber ist das so? Ich glaube nicht. Ganz im Gegenteil: Für mich hat Jesus an Wert gewonnen, dadurch dass ich ihn als Juden besser kennen gelernt habe. Er ist für mich einzigartig wie vorher auch. Aber mir ist deutlicher geworden, worin seine Einzigartigkeit besteht – und worin eben nicht. Denn manchmal suchen wir die Einzigartigkeit Jesu auch falschen Ort.

Ganz wie wir – und trotzdem einzigartig

Dass Jesus ein Mensch war wie andere Menschen, macht ihn nicht weniger einzigartig. Dass er ein Jude war wie andere Juden, ebenfalls nicht. Im Gegenteil, gerade darin liegt ja das Geheimnis der Menschwerdung. Dass Gott wirklich „einer von uns wurde“, ein Mensch wie andere Menschen, ein Kind wie andere Kinder, ein Mann wie andere Männer, ein Jude wie andere Juden. Diese Grundüberzeugung der Christen ist uns einerseits so vertraut, und andererseits doch so unglaublich, dass sie uns manchmal Angst macht, sobald wir sie durchbuchstabieren. Schon im ersten Jahrhundert fiel es manchen Christen schwer, das zu glauben. Es schien Gott so klein zu machen. Der große Gott konnte doch nicht so menschlich werden! Der erste Johannesbrief (4,2-3) und auch der Hebräerbrief (4,15) müssen das deshalb noch einmal besonders betonen. Schon früh gab es die Irrlehre des „Doketismus“: Jesus, so behaupteten die Doketisten, habe zwar wie ein normaler Mensch ausgesehen, sei aber in Wirklichkeit keiner gewesen. Sein Körper war nur ein Schein-Körper, sein Tod nur ein Schein-Tod. Dem gegenüber haben die Christen aber stets an dieser unglaublichen Wahrheit festgehalten: Jesus war wirklich einer von uns. Ein Mensch aus Fleisch und Blut wie wir. Das bedeutet aber auch, dass er manchen Beschränkungen des Menschseins ausgesetzt war: Er war eben ein Mann und keine Frau. Und darin war er anders als gut die Hälfte aller Menschen. Ebenso war er ein Jude und kein Römer. Kein Deutscher und auch kein Amerikaner. Kein Buddhist und auch kein Moslem. Dass Jesus ein Jude war, nimmt also nichts weg von dem Wunder der Menschwerdung. Im Gegenteil, es gehört gerade dazu. Das Jesus ein Jude war, macht ihn nicht weniger göttlich und auch nicht weniger menschlich. Es war Gottes Plan und Entscheidung, zu genau dieser Zeit in genau diesem Land und Volk Mensch zu werden. Denn Gott wurde nicht an Raum, Zeit und Kultur vorbei, sondern in Raum, Zeit und Kultur hinein ein Mensch. Genau das aber macht ihn einzigartig.

Keine Unterschiede?

Die Angst, Jesus als Juden zu sehen, liegt oft auch darin begründet, dass man befürchtet, die Unterschiede zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben zu verwischen. Viele Leser haben meine Zeilen offenbar so missverstanden, als sollten wir die heutige jüdische Sicht von Jesus kritiklos übernehmen und alles über Bord werfen, was Juden und Christen heute noch trennt: Jesus wäre dann ‚nur‘ ein wichtiger Lehrer, aber nicht der Messias oder Sohn Gottes (jedenfalls nicht mehr oder weniger, als das ganze Volk Israel, das ja schon in der Bibel als „Sohn Gottes“ bezeichnet wurde). Das aber wäre nicht nur unnötig, sondern falsch. Wir können und brauchen unseren Glauben an Jesus, den Messias, auch im Gespräch mit jüdischen Freunden nicht zu verbergen. Aber wir können trotzdem viel von ihnen, und mit ihnen lernen. Nicht alles, was Juden über Jesus sagen, muss richtig sein. Aber ebenso wenig muss alles falsch sein. Und vielleicht gibt es ja sogar Bereiche, in denen Juden uns helfen können, ein falsches christliches Bild von Jesus durch ein richtigeres jüdisches zu ersetzen.

Jesu Kritik an „den Juden“

Aber was ist mit den kritischen Worten, die Jesus gegenüber seinen jüdischen Zeitgenossen fand? Sind sie nicht ein deutliches Zeichen, dass er ein Gegner der Juden war und das sein Ruf in die Nachfolge immer auch ein Ruf war, den falschen jüdischen Glauben zu verlassen? Die großen Väter der Aufklärungszeit waren davon überzeugt: Das Judentum, so glaubten sie, war eine degenerierte Form des biblischen Glaubens. Alles, was von Gott in der Bibel gut gemeint war – die Gebote, der Tempel, die Priester, die Erwählung, das Volk – war im Judentum zu einer falschen Religiosität verkommen, aus der die Juden nun befreit werden mussten. Und auch heute findet man diese Sicht der Dinge nicht selten in unseren Predigten und Köpfen. Schaut man sich jedoch die Kritik Jesu an den Juden seiner Zeit an, findet man nichts davon. Seine Kritik ist nicht die Kritik eines Außenstehenden, sondern die eines Familienmitglieds. Vielleicht kann man es mit einem modernen Beispiel vergleichen: Wenn Billy Graham den Christen seiner Zeit vorhält, sie würden zu wenig evangelisieren, dann erklärt er damit weder den christlichen Glauben für falsch, noch seinen eigenen Austritt aus dem Christentum. Im Gegenteil: Er kritisiert das, was er liebt und was Kern seiner eigenen Identität ist. Ja, Jesus hatte viel auszusetzen an Juden seiner Zeit. Aber hätte (und hat) sicher auch viel auszusetzen an Christen unserer Zeit. Er hatte aber auch viel Lob für Juden seiner Zeit und er hat sicher viel Lob für Christen unserer Zeit. Jesu Kritik am Judentum ist deshalb eine Kritik aus der Mitte heraus, nicht eine Kritik aus dem Abstand.

„Einzigartigkeit“ in der Aufklärung…

Der Wunsch, einen Jesus zu konstruieren, der in allem ganz anders war als seine jüdische Umwelt, hat seinen eigentlichen Ursprung nicht im Neuen Testament, sondern in der beginnenden Bibelkritik der Aufklärungszeit. Damals begann man, die zentralen Grundüberzeugungen der Bibel in Frage zu stellen: Gottes Geschichte mit dem Volk Israel ebenso wie das Geheimnis der Menschwerdung Jesu. Sowohl die jüdische Messiaserwartung als auch die Berichte von Jungfrauengeburt und Auferstehung tat man als „jüdische Fabeln ab“, ebenso die Bedeutung des Todes Jesu als Sühne für Sünden. Stattdessen suchte man nach dem Jesus, der als historische Persönlichkeit „einzigartig“ war. Diese Einzigartigkeit meinte man zu finden, indem man Jesus als „Religionsstifter“ stilisierte, der aus einem überkommen, abergläubischen Judentum das weltoffene, ethisch hochstehende Christentum erschuf, das in Wirklichkeit die Werte der Aufklärung verkörperte. Man suchte nun die Einzigartigkeit Jesu in seinen Lehren, seinen ethischen Überzeugungen, seiner Weltoffenheit und seiner Liebe zu den Menschen. Man suchte sie in dem Wert, den Jesus als große Persönlichkeit der Weltgeschichte hatte, und stellte ihn in eine Reihe mit Sokrates, Cäsar, Michelangelo und Napoleon. Man suchte sie in den „Ideen“ dies großen Mannes aus Nazareth und verglich ihn  mit Michelangelo, Gutenberg und Galileo. Solche großen Männer zeigten ihre Größe stets nur in Abgrenzung gegenüber ihrer Umwelt. Sie schufen Eigenes, erfanden Neues, entdeckten Unbekanntes und brachten Systeme zu Fall. Das, und nur das, machte sie in den Augen der Aufklärung zu „einzigartigen“ Persönlichkeiten. Deshalb brauchte man einen Jesus, der sich in „allem“ unterschied von seiner Umwelt. Alles, was Jesus sagte und tat, musste neu, revolutionär, einzigartig sein: Dort Gesetzlichkeit, hier Freiheit. Dort Nationalismus, hier Weltblick. Dort tote Religiosität, hier  lebendiger Glaube. Dort Hierarchie, hier Gleichheit. Dort Buchstabenglaube, hier innere Werte. Dort ein Gott der Gerechtigkeit, hier ein Gott der Liebe. Und so weiter. Es waren also in Wirklichkeit die „einzigartigen“ Werte der Aufklärung, die Jesus einzigartig machten.

… und in der Bibel

In Wirklichkeit aber suchte man so die Einzigartigkeit Jesu an der falschen Stelle. Die Bibel behauptet nie, dass alles, was Jesus lehrte und sagte, neu und unbekannt war. Im Gegenteil, sie macht immer wieder deutlich, dass Jesus eine ganz alte Wahrheit brachte, die „schon vorzeiten auf vielfältige Weise den Vätern durch die Propheten“ offenbart wurde (Hebräer 1,1-2). Sie macht deutlich, dass hier kein Bruch in der Weltgeschichte passiert, sondern im Gegenteil eine lange Geschichte Gottes mit der Welt ihren erwarteten Abschluss findet. Wie eigenartig wäre es , hätte Jesus gesagt „Gott ist ganz anders als ihr denkt!“ – denn dann müsste man ja davon ausgehen, dass der ganze erste Teil der Bibel ein Irrtum und die ganze bisherige Geschichte Israels ein Irrweg war. Schaut man sich die Liste der „einzigartigen“ Wert der Aufklärung an, dann entdeckt man, dass sie schon im Alten Testament selbstverständlich sind, und sie waren es für die meisten jüdischen Lehrer der zeit Jesu, die ja dieselbe Bibel lasen wie Jesus und seine Jünger. Diese Lehren und Überzeugungen sind es also nicht, die Jesus einzigartig machen – das aber hat Jesus auch nie behauptet. Im Gegenteil, er bezeichnete sich als „Erfüller“ dieser alten altbekannten Wahrheiten (Lukas 4,21; Matthäus 5,17).

Zurück zur Mitte

Die Einzigartigkeit Jesu liegt nicht unbedingt in seinen Lehren, in seinem Glauben, in seinen Gebeten oder in seinem Bild von Gott. Ebenso wenig, wie sie in seiner Kleidung, seiner Sprache oder seinem Haarschnitt liegt. Wir haben uns hier von der Aufklärung auf eine falsche Spur setzen lassen. Eine Spur, die Jesus nur dann Besonderheit zugesteht, wenn er neue Ideen oder eine neue Religion brachte. Der Anspruch Jesu geht aber viel tiefer: Er ist nicht nur ein einzigartiger Lehrer, sondern der einziggeborene Sohn Gottes. Er ist nicht nur Gründer einer neuen Glaubensrichtung, sondern Zentrum unseres Glaubens. Er ist nicht nur ein Reformator des Judentums, sondern der Messias des jüdischen Volkes. Das sind Überzeugungen, denen weder die Väter der Aufklärung noch die heutigen Vertreter des Judentums zustimmen würden.

Aber für Menschen, die an Jesus glauben und seine Worte ernst nehmen, darunter übrigens bis heute Juden wie Nichtjuden, liegt hier die wahre Einzigartigkeit Jesu begründet. Und wenn wir dies erkennen, dann können wir uns auch von ganzem Herzen und ohne Bedenken darüber freuen, dass Jesus in vielen anderen Bereichen seines Lebens, seines Glaubens und seiner Lehren „ganz Mensch“ war – ganz wie wir, und eben auch „ganz Jude“.


Quelle: Jesus der Jude: Eigenartig oder einzigartig? – Faszination Bibel 3/2011, S. 40-42 (7 MB)

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