Psalm 95: Eine Reise in das Land der Anbetung

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1 Kommt, lasst uns dem Herrn zujubeln!

Lasst uns den Fels unseres Heils preisen!

2 Lasst uns mit Dank vor ihn hintreten!

Lasst uns Loblieder auf ihn anstimmen.

3 Denn der Herr ist ein großer Gott,

der große König über alle Götter.

4 Ihm gehören die Tiefen der Erde,

und die höchsten Berge sind sein.

5 Das Meer gehört ihm, denn er hat es erschaffen.

Seine Hände haben das trockene Land geformt.

6 Kommt, lasst uns anbeten und uns vor ihm verbeugen.

Lasst uns niederknien vor dem Herrn, unserem Schöpfer.

7 Denn er ist unser Gott

und wir sind das Volk, das er beschützt,

die Schafe, die er behütet.

Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören würdet!

 

Dieser Psalm ist eine Einladung zu einer Reise: Eine Reise in das Land der Anbetung. Er nimmt uns mit in dieses Land, das für uns alle Heimat ist und doch für so viele von uns ein fremdes Land. Und ich möchte Sie einladen, sich jetzt mit mir auf diese Reise zu begeben. Es sind vier einfache Schritte, in die uns der Psalm hinein nimmt, und diese möchte ich, einen nach dem anderen, mit Ihnen zusammen gehen:

Der erste Schritt heißt: AUFSTEHEN. Die ersten vier Zeilen reden davon. Und ganz besonders das erste Wort: „Kommt!“. Diese Zeilen sind eine Einladung, die uns herausruft aus allem anderen, was wir gerade tun. Ganz egal, was es auch sei, diese vier Zeilen drängen uns, es loszulassen und uns dem Neuen zuzuwenden: „Lasst uns anbeten! Lasst uns preisen! Lasst uns hintreten und anstimmen!“ Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Gott anbeten. Obwohl dafür geschaffen wurden. Obwohl es unsere eigentliche Lebensader ist, Ursprung und Quelle unseres Daseins. Aber der Alltag verschüttet diese Ader immer wieder. Und dieser Psalm lädt uns ein, uns wieder auf den Weg zu machen. Gottes Nähe und seine Gegenwart zu suchen. Dazu müssen wir aufstehen, uns aufmachen, „herzukommen“ und „hinzutreten“, wie es die alte Lutherübersetzung sagt. Wir müssen loslassen, was uns beschäftigt und gefangen hält. Die innere To Do–Liste reorganisieren und nach unten schieben, was dort den ersten Platz beansprucht. Anbetung ist keine Nebenbeschäftigung. Anbetung fordert uns ganz, unsere Seele, Herz und Sinn. Ich lade Sie daher einen, einen Moment innezuhalten, bevor Sie weiter lesen. Nehmen Sie sich Zeit, innerlich aufzustehen, loszulassen, sich neu zu ordnen und „vor ihn hinzutreten“, wie es der Psalm sagt.

Der zweite Schritt heißt: AUFSEHEN. Der Psalm lenkt unseren Blick von außen nach oben. Natürlich sind wir alle aufgeklärt und wissen, dass Gott nicht oben ist, sondern überall ist. Aber glauben wir eigentlich wirklich, die Menschen der Bibel wussten das noch nicht? Wenn die Bibel immer wieder darauf beharrt, Gott „oben“ anzusiedeln, dann tut sie dies nicht aus Dummheit, sondern aus Weisheit: Weil wir nur so gewahr werden, wie viel größer Gott ist als alles, was wir denken können. Wie viel höher er steht, als alles, was wir bewundern oder wichtig finden. Anbetung heißt: Aufsehen zu Gott, dem Anfänger und Vollender aller Dinge: Da ist einer, der nicht nur größer ist als ich selbst, sondern größer als alles um mich herum. Ein großer König über alles, was sich in unserer Welt Gott nennt. An dieser Stelle lädt uns der Psalm ein, das Staunen neu zu erlernen. Überraschung und Begeisterung einzuüben in mitten einer Welt, in der nur das Praktische und das Machbare zählt. In der die Routine alles Überraschende erstickt und die Besserwisserei alles Staunen unmöglich macht.

Auch unser Gebetsleben ist oft so zweckgebunden. Wir nennen Gott unsere Bedürfnisse und schlagen ihm zudem noch vor, auf welche Weise er diese stillen sollte. Wir laden ihn als Teilhaber zu unseren Unternehmungen ein, engagieren ihn als Berater für unsere Projekte,  machen ihn zum Erfüller unserer Wünsche und zum Füller unserer Lücken. Und sogar unsere Lobpreislieder atmen heute immer öfter den Geist frommer Nabelschau. Anbetung dreht dieses Denken auf den Kopf: Gott ist oben, wir sind unten. Gott ist größer und steht höher. Eine kurze, aber wilde Reise zu den Höhen und Tiefen der Welt, ein geistlicher Vogelflug über bizarre Landmassen, von Gottes Hand geformt, und die schäumende Gischt der Ozeane, von seinem Atem bewegt, rückt die Dinge wieder in die richtige Perspektive: Am Ende steht das Staunen, das Verstummen. Und das Lob. Lobpreis ist keine Gute-Laune-Veranstaltung zur Überwindung von Sonntag-Morgen-Trägheit. Lobpreis ist nicht die süße Sahnehaube auf dem ansonsten säuerlichen Gemeindealltag. Lobpreis ist ein Augenöffner für die größere Realität unseres Gottes. Es steht uns gut und tut uns gut, wenn wir uns dafür ausreichend Zeit nehmen. Ich lade Sie ein, auch hier das Lesen einen Moment zu unterbrechen und in diese Welt des Staunens einzutreten. Schauen Sie auf zu Gott. Sehen Sie auf das, was er gemacht hat und noch heute macht. Auf das, was er getan hat – für andere und für Sie selbst. Loben und preisen Sie ihn, den Herrn über Himmel und Erde, den Herrn über Höhen und Tiefen, den Herrn Ihres Lebens.

Der dritte Schritt in die Welt der Anbetung ist unbequem: Er heißt AUFGEBEN. Dieses Bild nämlich steckt hinter dem Wort, das hier mit „anbeten“ übersetzt ist: Es ist die Geste der Kapitulation. Das Bild eines Kämpfers, der aufgibt, weil er endlich seinen Meister gefunden hat. Bildlich ausgedrückt durch die Worte  „verbeugen“ und „niederknien“, in anderen Übersetzungen heißt es „niederfallen“. Das ist mehr als nur Lob und Preis: Ich kann Gott loben für alles Mögliche, und dabei dennoch auf meinen eigenen Füßen stehen bleiben. Aber mein eigenes Selbst ganz in seine Hände zu geben, alles aufzugeben und es an ihn hinzugeben, das ist noch einmal etwas anderes: Es schließt das Aufgeben meiner eigenen Ansprüche, meiner Erwatungen, meiner Träume, meiner Wünsche ein. Nicht deshalb, weil ich sie nicht haben dürfte. Sondern weil sie nicht mir gehören. Sie gehören Gott, so wie mein Leben, mein Glück, mein Geld, meine Beziehungen, meine Gefühle, mein Glaube, meine Berufungen und Verheißungen. Das alles in Gottes Hände zu legen und an ihn abzugeben, das bedeutet Anbetung. Es mag manchmal so scheinen, als seien Anbeter die wirklich „geistlich Reichen“ und „Starken im Glauben“. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein: Echte Anbetung ist immer ein Ausdruck geistlicher Armut, ein Eingeständnis unserer Bedürftigkeit und der schwierige Schritt, zu kapitulieren auf den Schlachtfeldern unseres inneren Kampfes gegen den, der uns gemacht hat. Das ist sicher keine Sache eines Augenblicks, sondern ein Lebensabenteuer, auf das wir uns einlassen. Trotzdem möchte ich Sie auch hier einladen, sich einen Moment Zeit nehmen zum Gebet: Fragen Sie sich und Gott, wo es noch Schlachtfelder gibt in Ihrem Leben, auf denen Sie selbst das Zepter in der Hand haben. Dies sind die Bereiche, wo Ihre Anbetung in der Zukunft noch in die Tiefe wachsen kann und muss. Erklären Sie Gott Ihre Bereitschaft zur Kapitulation – und geben Sie sich in seine Hand, auch wenn der eigentliche Weg zur Aufgabe noch vor Ihnen liegt.

Der vierte Schritt auf dem Weg ins Land der Anbetung heißt: ANNEHMEN. Der Psalm redet jetzt davon, wie Gott sich uns zuwendet. Er sorgt für uns, er beschützt uns, oder, wie es im hebräischen Text heißt: „Wir sind Schafe seiner Hand.“ Es ist die kleine Vorsilbe „an“, die das „Anbeten“ vom „Beten“ unterscheidet. In ihr steckt das Bild eines direkten Kontaktes, einer Begegnung, einer Berührung: Gott kommt uns nahe, er legt seine Hand auf uns und lässt uns seine Stimme hören. Deshalb hat Anbetung auch etwas damit zu tun, annehmen zu können: Gottes Berührung zu empfangen, auf seine Stimme zu hören. Etwas weiter oben habe ich kritisch angemerkt, dass unser Lobpreis manchmal zu sehr eine fromme Nabelschau ist. Aber manchmal gilt auch das Gegenteil: Wir lassen vor lauter Ehrfurcht die Nähe Gottes nicht zu. Aber er will uns berühren und beschenken, wenn wir zu ihm kommen. Deshalb: Wenn wir doch heute seine Nähe zulassen, seine Berührung annehmen und seine Worte hören würden!

AUFSTEHEN, AUFSEHEN, AUFGEBEN, ANNEHMEN: Vier wichtige Schritte auf  dem Weg ins Land der Anbetung sind in diesem Psalm beschrieben. Es ist keine Methode, kein Rezept und keine Bastelanleitung. Sicher gibt es viele andere Schritte, die zu gehen wären. Aber diese vier sind eine Einladung an uns. Folgen wir ihr, nicht nur heute, nicht nur am Sonntag. Sondern unser Leben lang.

Zitat: „Wenn wir den Klang der Psalmen aus ganzem Herzen anstimmen, dann entsteht dadurch ein Weg, auf dem der allmächtige Gott zu unserem Herzen gelangt. Und in unserem Herzen entsteht so ein Weg, auf dem wir zu Jesus kommen.“

Alkuin von York (8.Jh.)


Quelle: Ulrich Eggers (Hg.): Lobe, und du lebst, S. 158-161 – R.Brockhaus Verlag (Edition Aufatmen) 2008

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