Rabban Gamaliel

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„Denn wenn diese Sache, diese Bewegung nur von Menschen stammt, dann wird sie keinen Bestand haben. Wenn sie aber von Gott herkommt, dann könnt ihr diese Leute auch nicht vernichten. Passt nur auf, dass ihr am Ende nicht als Kämpfer gegen Gott dasteht!“ (Apg. 5,38-39 DBU)

Rabban Gamaliel gehört zu den Randfiguren des Neuen Testaments, die mich sehr faszinieren. Er wird uns in der Apostelgeschichte als ein „Pharisäer und Schriftgelehrter“ vorgestellt, und damit landet er bei den meisten von uns zunächst einmal auf der Seite der Bösewichte und Gegner Jesu. Aber Gamaliel passt nicht in dieses Schema: Im Gegenteil, er ist es, der für die Sache Jesu ausdrücklich ein gutes Wort einlegt. Was war passiert? Petrus und Johannes waren nach einem illegalen Missionseinsatz im Tempelbezirk vor den Hohen Rat zitiert worden. Als sie hier erneut ihre Botschaft von Jesus erklärten, wurden die Anwesenden wütend, sogar die Forderung nach einer Todesstrafe wurde laut. Da aber meldete sich Gamaliel zu Wort, mit den oben zitierten Worten, die als weiser „Rat des Gamaliel“ in die Geschichte eingingen. Offenbar hatte sein Wort im Hohen Rat Gewicht, denn sein Vorschlag wurde befolgt und die beiden Jünger wurden freigelassen, wenn auch nicht, ohne vorher gegeißelt zu werden.

Was war das für ein Mensch, der hier mit einem weisen Wort einen Streit schlichtete und eine Tür für das Evangelium öffnete, an das er doch selbst nicht glaubte? Wir können annehmen, dass es sich um „Gamaliel den Älteren“ handelt, einen der berühmtesten jüdischen Lehrer der Zeit Jesu, der uns nicht nur aus dem Neuen Testament, sondern auch aus der jüdischen Literatur gut bekannt ist. Sein Großvater Hillel gehörte zu den „Urvätern“ der pharisäischen Bewegung, und von ihm stammte ein geflügeltes Wort, das uns später auch bei Jesus in ganz ähnlicher Weise begegnet: „Was du nicht willst, dass man es dir antut, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist das ganze Gesetz. Alles andere ist Auslegung. Gehe hin und studiere es“ (1). Gamaliel war der erste Pharisäer, der den Ehrentitel „Rabban“ trug, und er war vermutlich sogar der Vorsitzende des Hohen Rates. Das hohe Ansehen, dass er beim Volk hatte, zeigt sich in dem Ausspruch: „Als Rabban Gamaliel starb, starben mit ihm die Ehrfurcht vor dem Gesetz, Reinheit und Frömmigkeit“ (2).

Die Weitherzigkeit und Besonnenheit, mit der er auf den Streit um Petrus und Johannes reagiert, scheinen zu seinen grundlegenden Charaktereigenschaften zu zählen. Er war offenbar jemand, der den Mut hatte, Grenzen und Vorurteile zu überwinden, im Interesse eines höheren Gutes: Die traditionellen Animositäten zwischen Pharisäern und Sadduzäern etwa durchbrach er, als er seiner Tochter die Hochzeit mit einem Sadduzäer erlaubte (3). In mehreren kniffligen Fragen der Gesetzesauslegung erlaubte Gamaliel ein Abweichen von strengen jüdischen Vorschriften „im Blick auf das Wohl der ganzen Welt“ (4). Dieser Grundsatz, obwohl er von Gamaliel nur selten und in Ausnahmefällen angewendet wird, wurde in der jüdischen Tradition ein wichtiges und grundlegendes ethisches Prinzip.

Was also können wir von Rabban Gamaliel lernen?  Es ist die Bereitschaft, die Grenzen der manchmal zu engen eigenen Überzeugung zu überwinden, wenn wir erkennen, dass Gottes Herz größer ist. Es ist ja nicht so, dass Gamaliel so nachlässig ist, weil ihm die Sache egal wäre. Er ist kein „Liberaler“ im abwertenden Sinne des Wortes. Im Gegenteil: Er beginnt seine Rede mit den Worten „Ihr Männer, Ihr Israeliten! Seht euch bei diesen Menschen genau vor, was ihr mit ihnen tun wollt“. Genau hinsehen ist das Stichwort. Und genau hinsehen bedeutet eben nicht nur, die Meinung des anderen kritisch zu beäugen und abzulehnen, bevor man sie gehört hat. Sondern es bedeutet hinhören und verstehen. Abwarten und beobachten. Und es bedeutet auch, die eigene Position kritisch zu sehen: Geht es mir nur um meine eigene Meinung und Macht oder geht es mir um das Größere, um die Sache Gottes? So oft geht es in Streitigkeiten und Grabenkämpfen, sei es unter Christen, oder sei es zwischen Christen und anderen Menschen, weniger um Gottes Sache als um unsere eigene Ehre: Wir wollen traditionelle Positionen nicht aufgeben, wir wollen unsere Vorurteile behalten, wir bleiben bei unseren Vorstellungen von schwarz und weiß. Wir sind dagegen, weil wir dagegen sind. Und damit basta.

Gamaliel denkt anders: Er denkt von Gott her. Vielleicht, so sagt er seinen Zeitgenossen, haben wir recht mit unserer Ablehnung. Vielleicht aber haben ihr auch Unrecht. Am Ende aber kann es ja nicht darum gehen, dass wir Recht behalten, sondern darum, dass Gott recht behält. Und sei es, dass wir dafür unsere Meinung ändern müssen. Sonst stehen wir am Ende noch als „Kämpfer gegen Gott“ da. Ein weises Wort. Ein Wort, das eine Tür öffnet und einen Konflikt beendet. Ein Wort, das nicht auf Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit beruht, sondern auf ernsthaftem Suchen nach der Wahrheit und nach einem demütigen Bewusstsein für den unbedingten Vorrang Gottes vor allen menschlichen Rechthabereien. Das Wort eines jüdischen Lehrers, von dem wir als Christen viel lernen können.

Und überhaupt ist dies ein Zweites, das wir von Gamaliel lernen können: Nämlich einen selbstkritischen Blick auf unser Bild vom Judentum der Zeit Jesu. „Pharisäer und Schriftgelehrte“, das ist für uns oft der Inbegriff der Feinde Jesu. Wir stellen uns darunter engstirnige, streitsüchtige, unbarmherzige und heuchlerische Zeitgenossen vor, die nur auf eines aus waren: Jesus zu schaden. Wir erleben sie in unseren Predigten oft als den dunklen Hintergrund, vor dem die Person Jesu um so heller zum Leuchten kommt. Nicht selten erklären wir ein Wort Jesu vor allem dadurch, dass wir es gegenüber den jüdischen Glaubensvorstellungen abgrenzen: Bei den Juden zählt das Gesetz, aber bei Jesus zählt die Freiheit. Bei den Juden geht es um Selbstdarstellung, aber bei Jesus um die Authentizität. Bei den Juden geht es um das Äußere, aber bei Jesus um das Innere. Achten Sie einmal darauf, wenn Sie Predigten hören oder Bücher lesen!

Aber kennen wir eigentlich die Juden der Zeit Jesu gut genug, um ein solches Bild zu zeichnen? Woher nehmen wir überhaupt unser Bild von „den Juden“? Wie viele von uns lesen die Schriften der jüdischen Lehrer und Rabbinen, wie viele von uns kennen die Worte von Pharisäern wie Hillel oder Gamaliel? Es gibt sie in jedem Buchhandel zu kaufen, aber in unseren Regalen sucht man sie neben Bibeln, Kommentaren und Lexika oft vergeblich. Das ist eigentlich schade, denn wir würden vielleicht entdecken, dass die Kluft zwischen Jesus und Gamaliel gar nicht so groß ist, wie wir immer dachten. In der Tat war Jesus mit seinen Lehren den Pharisäern, unter allen jüdischen Gruppierungen, am Allernächsten. Vermutlich hat er auch gerade deshalb diese Gruppe am häufigsten und am deutlichsten kritisiert. Innerhalb der Familie streitet man meist schärfer als anderswo, aber doch nur deshalb, weil man besonders eng miteinander verbunden ist.

Vielleicht ist Gamaliel also gar keine so große Ausnahme, sondern er steht für die vielen, vielen Juden, die ernsthaft nach Gott suchten, die auch Jesus gegenüber offen waren, und die sich ja auch in großer Zahl Jesus anschlossen. Warum also suchen wir immer so eifrig nach Gegensätzen zwischen Jesus und den Juden? Warum sehen wir nicht auch die große Nähe und die vielen Juden, die ihm nicht als Gegner, sondern als interessierte und offene Zuhörer begegneten, darunter sicher auch viele Pharisäer und Schriftgelehrte? Vielleicht können wir also auch hier von Gamaliel lernen, traditionelle Vorurteile gegen Juden abzubauen und stattdessen „genauer hinzusehen“.

Es ist vermutlich kein Wunder, dass es ausgerechnet ein Pharisäer war, der das Wort für die neu entstandene Jesusbewegung ergreift. Vielleicht konnte gerade er die Botschaft von Jesus besonders gut nachvollziehen. Eine christliche Überlieferung besagt sogar, dass Gamaliel sich später selbst der Jesusbewegung anschloss. Wir wissen nicht, ob das stimmt. In den jüdischen Quellen ist davon nichts zu lesen, und es ist fraglich, ob Gamaliel sein hohes Ansehen in der jüdischen Tradition behalten hätte, wenn er wirklich ein Jesusjünger geworden ist.

Aber seine weitherzige, weltverbundene und gleichzeitig gottzentrierte Art hat vielleicht noch an anderer Stelle ihren Niederschlag im Neuen Testament gefunden: Zu den Schülern des Gamaliel zählte sich nämlich auch Paulus von Tarsus. Er wurde bekannt als Überwinder der Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden – um der größeren Sache Gottes und um des Evangeliums willen. Vielleicht hatte er diesen weiten Blick für das „Wohl der ganzen Welt“, und seinen Mut, traditionelle Grenzen zu überwinden, ja schon von seinem Lehrer Gamaliel gelernt. Und vielleicht täte es auch uns gut, zumal dann, wenn wir Jesus und Paulus besser verstehen möchten, hin und wieder „zu den Füßen des Rabbi Gamaliel“ (Apg. 22,3) zu sitzen.

Guido Baltes ist evangelischer Theologe und Pfarrer im Ehrenamt der rheinischen Landeskirche. Er gehört zum Leitungskreis des Christus-Treff Marburg und unterrichtet als Dozent für Neues Testament am Marburger Bibelseminar. Von 2003 bis 2009 leitete er zusammen mit seiner Frau Steffi die Arbeit des Christus-Treffs im Johanniter-Hospiz in der Altstadt von Jerusalem.

Als bewusste Anregung, die Schriften des Judentums auch einmal im Originaltext zu lesen, sind in dieser Andacht auch Belegstellen zum Nachschlagen angegeben: (1) Talmud, Sabbat 31a (2) Mischna, Sota 15:18 (3) Tosefta, Avoda Zara 3:10 (4) Mischna, Gittin 4:2.


Quelle: H. Steeb (Hg.): Gottes verborgene Helden. 52 Andachten – SCM Brockhaus Verlag 2010, ? 14,95 (56 kB)

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