Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 12: Die Juden sind an allem schuld. (Nicht.)

Veröffentlicht in: Bibelschwurbel und Bibelkritik | 0

Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 12: Die Juden sind an allem schuld. (Nicht.)

In den letzten beiden Folgen ging es schon darum, dass Verschwörungstheorien sehr oft mit vereinfachenden Erklärungsschlüsseln für komplexe Phänomene arbeiten. Das heißt: die zunehmende Unübersichtlichkeit der Welt wird damit ausgeglichen, dass man hinter allem eine sehr einfache Erklärung sucht: Nämlich entweder eine kleine Gruppe verschworener Strippenzieher (deshalb heißt es ja Verschwörungstheorie), oder aber ein geplantes und gesteuertes Programm zur Erlangung der Weltherrschaft – oder eben beides.

Die Juden sind an allem schuld. (?)

Heute geht es um eine Theorie, die beides miteinander vereint. Es ist eine der ältesten Verschwörungstheorien überhaupt, sozusagen eine Mutter unter den Verschwörungstheorien. Nämlich die Behauptung, dass die Juden schuld sind an allem Schlechten in der Welt. Eine Theorie mit einer langen Geschichte, die in der Antike anfängt, sich durch das Mittelalter zieht, im 20. Jahrhundert zur Ermordung von 6 Missionen Juden geführt hat und auch jetzt in der Coronazeit wieder fröhliche Urstände feiert.

Brunnenvergiftung und der Corona-Virus

Schon im Mittelalter hat man den Juden immer wieder vorgeworfen, dass sie gezielt Brunnen vergiften, um Krankheiten und Epidemien zu verbreiten. Heute wird den Juden vorgeworfen, den Corona-Virus in die Welt gesetzt zu haben. Die US amerikanische Anti Defamation League hat eine lange Liste von Beispielen aus sozialen Medien dokumentiert, die ich euch hier  verlinke.

Das Blut von kleinen Kindern

Ein anderer alter Vorwurf gegen Juden ist, dass sie kleine Kinder entführen, um ihr Blut zu trinken oder für religiöse Zeremonien zu verwenden Eine ganz ähnliche Meldung verbreitet der vegane Koch Attila Hildmann im Juni per Telegram: Den jüdischen Milliardär George Soros bezeichnet er als Kinderfresser, die Bundesregierung nennt er „Das zionistische Regime unter Kanzlerin Merkel“. Dieses Regime werde von den Zionisten gelenkt und verfolge das Ziel, „unser Deutschland ausbluten zu lassen“. Xavier Naidoo hat in einem viralen Video im April angedeutet, dass die Corona-Krise nur vorgetäuscht sei, um die Aufdeckung eines weltweiten von Juden gesteuerten Netzwerks zu vertuschen, in dem Kinder entführt und gefoltert würden, um aus ihrem Blut „Adrenochrom“ zu gewinnen und daraus Verjüngungsmittel für die reichen Eliten herzustellen.

Die Juden und die Weltherrschaft

Seit dem zwanzigsten Jahrhundert ist vor allem der Vorwurf verbreitet, dass ein Geheimbund jüdischer Verschwörung die Weltherrschaft an sich reißen will. Die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ sind so was wie die Bibel antijüdischer Verschwörungstheorien. Und tatsächlich, auch bei Attila Hildmann taucht dieser Vorwurf auf: Juden wie George Soros und Henry Kissinger seien in Wirklichkeit „keine Menschen“, sondern eine fremde Spezies. Aber, so Hildmann, sie steuern die Welt. Kanzlerin Merkel und andere europäische Staatschefs nennt er „ihre Regierungschergen“. Adolf Hitler sei im Vergleich zu Angela Merkel ein Segen gewesen.

Christliche Wurzeln des Antisemitismus

Wo kommen solche verschwurbelten und zutiefst kriminellen Ideen her? Leider gehen sie auf eine ganz lange Geschichte verschwurbelter Bibelauslegung zurück, die ebenfalls von der Antike bis in unsere heutige Zeit hineinreicht.

Dahinter steckt die alte Idee, das schon bei Jesus die Juden immer die Bösen waren. Vor allem die Pharisäer, die sich gegen Jesus stellten. Und dass Jesus in die Welt kam, um die Welt zu befreien nicht etwa von der Sünde, sondern aus der Umklammerung eines böswilligen, gnadenlosen, unterdrückerischen, gesetzlichen und elitär-ausgrenzenden Judentums. Damit eng verbunden ist auch die Idee, dass Jesus kam, um die Welt vom Alten Testament, von der jüdischen Bibel, zu befreien.

Jesus, so formulierte es eines der populärsten Jesusbücher des 19. Jahrhunderts, trat auf als „Zerstörer des Judentums“ (Ernest Renan: Das Leben Jesu. Stuttgart: Reclam 1863, Kapitel 13).

Und noch 1951 schrieb einer der bekanntesten deutschen Theologen in einem sehr einflussreichen Aufsatz, Jesus habe mit seinem Auftreten die Grundlagen des Judentums erschüttert und so den Tod des Judentums herbeigeführt. (Ernst Käsemann: „Das Problem des historischen Jesus“. ZThK 51 (1954), S. 125-153; hier S. 147)

Antisemitismus und (post)moderne Bibelauslegung

Diese alte antisemitische Haltung, die in Jesus den Überwinder des Judentums und den Befreier vom Alten Testament sieht, ist leider bis heute unter Christen weit verbreitet. Und sie bildet für viele Christen den zentralen Schlüssel einer verschwurbelten Bibelauslegung.

Gerade in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Aufatmen“ gibt es eine angeregte Diskussion über das jetzt neu erschienene Buch des bekannten amerikanischen Pastors Andy Stanley. In diesem Buch werden leider viele dieser alten Klischees neu aktiviert. Und ich habe deshalb auch einen Beitrag zu dieser Diskussion geschrieben, vielleicht könnt ihr euch das Heft irgendwo besorgen.

Leider reicht die Zeit überhaupt nicht aus, auf das Problem auch nur ansatzweise einzugehen. Ich habe zwei ausführliche Bücher und viele Artikel genau zu diesem Thema geschrieben. Aber zumindest die Aufsätze könnt ihr auf meiner Webseite nachlesen.

Die Grundidee: Altes gegen Neues Testament

Die Grundidee ist eigentlich sehr schlicht. Genau wie bei den beiden anderen Auslegungsschlüsseln, um die es in den beiden letzten Folgen ging. Und sie geht ungefähr so:

Das Alte Testament vermittelt ein altes, falsches Bild von Gott. Der Gott des Alten Testaments ist ein böser, rachsüchtiger, zorniger und strafender Gott. Eben der Gott der Juden. Und mancher Christen bis heute.

Das Alte Testament ist streng und gesetzlich und besteht hauptsächlich aus Geboten und Verboten. Gnade gibt es im Alten Testament nicht, und wenn, dann nur für einige wenige, und vor allem nur für die Juden und nicht für den Rest der Welt. Aber um ihren Gott gnädig zu stimmen, müssen die Juden gehorsam sein und viele viele gute Werke tun. Deshalb ist das Judentum so gesetzlich, streng und unfrei. Gleichzeitig grenzt es sich ängstlich gegenüber allen ab, die anders sind: Gegenüber Nichtjuden, gegenüber Römern, gegenüber Samaritern. Ja sogar gegenüber den eigenen Leuten, indem es Frauen, Zöllner und Kranke systematisch ausgrenzt.

Jesus, der Überwinder des Alten Testaments

Vor diesem dunklen Hintergrund tritt nun aber Jesus auf die Bildfläche der Weltgeschichte, um die Menschheit aus den Fängen dieses bösen Gottes und des gesetzlichen Judentums zu befreien:

Jesus pfeift auf das Alte Testament und ersetzt es durch ein Neues. In diesem Neuen gibt es keine Gesetze und Gebote mehr, sondern nur noch Gnade. Um das deutlich zu machen, durchbricht Jesus regelmäßig die Gebote und erklärt sie für ungültig. Er heilt am Sabbat, er redet mit Frauen, er berührt Aussätzige, er isst mit Sündern. Wo das Judentum und das Alte Testament nur das Gesetz von Lohn und Strafe kennen, gibt es bei Jesus nur Gnade. Wo Juden und das Alte Testament ängstlich die anderen ausgrenzen, lädt Jesus alle ein, egal welchen Glaubens, welcher Nationalität, welchen Geschlechts, egal ob gesund oder krank, rein oder unrein. Nur Juden und Pharisäer und Reiche, die mag er nicht so. Jesus ist also fast so etwas wie der Attila Hildmann und der Xavier Naidoo seiner Zeit: Er bringt die Freiheit für alle, indem er sie befreit aus den Fängen der dunklen jüdischen Eliten.

Mit Jesus gegen die Bibel

Und was noch besser ist: Weil Jesus sich so souverän über seine Bibel, das Alte Testament, hinweggesetzt hat, deshalb können wir das heute genau so tun. Nicht nur über das Alte, sondern auch das Neue. Wir müssen lernen zu denken wie Jesus, und mutig über unsere Bibel hinausgehen.

Die Juden von damals und die Pharisäer von heute

Natürlich richten sich solche verschwurbelten Bibelauslegungen niemals gegen Juden heute. Sondern nur gegen die Juden in der Bibel. In der Übertragung auf heute werden die Pharisäer und Juden von damals immer nur als Bild für die Gegner und Feinde von heute. verwendet: Zum Beispiel für ein pharisäisches Christentum, für gesetzliche enge und ängstliche Ausgrenzung in der Kirche, für die mächtigen und reichen Eliten in unserer Gesellschaft.  Die Juden dienen also nur als Stereotyp, als willkommenes Symbol für das Böse heute.

Aber schuld sind natürlich die Juden und das Alte Testament. Der eben genannte amerikanische Pastor Andy Stanley etwa nennt das in seinem Buch immer wieder die „Überreste des Alten Bundes“. Also da, wo Christen engstirnig, gesetzlich, ausgrenzend und unfrei sind, da liegt es darin, dass sie das Alte Testament noch nicht losgelassen und das Judentum noch nicht so klar überwunden haben wie Jesus. Überreste des Alten Bundes. Schuld sind am Ende immer noch die Juden.

Wieder einmal: Faktencheck

Wie schon gesagt: Die Zeit reicht nicht, um hier wirklich einzusteigen. Aber vielleicht nehmen wir wieder das Fallbeispiel, das uns die ganze Reihe hindurch verfolgt: Die Worte Jesu über die Hölle. Schon diese wenigen Worte zeigen, wie falsch und verschwurbelt dieser ganze Ansatz ist, das Neue gegen das Alte Testament auszuspielen oder Jesus gegen das Judentum:

Viele Christen würden ja die Drohung mit der Hölle gern auf den zornigen und strafenden Gott des Alten Testaments schieben. Und dann behaupten, dass es bei Jesus weder den Zorn Gottes noch die Strafe gibt. Der Faktencheck zeigt aber: es ist genau umgekehrt: Im Alten Testament wird nirgendwo mit der Hölle gedroht, und ausgerechnet Jesus ist es, bei dem sich diese Drohung besonders oft und ausführlich findet. Und er ist sich dabei auch noch mit den jüdischen Lehrern einig. Schon bei diesem einen simplen Beispiel funktioniert die ganze Aufteilung nicht: Dort der alttestamentliche Gott, hier der neutestamentliche Gott. Dort Strafe, hier Gnade. Dort Zorn, hier Liebe. Dort Gesetz, hier Freiheit.

Man könnte jetzt noch an vielen anderen Beispielen so einen Faktencheck vornehmen, aber wir sind ja jetzt schon viel zu lang. Deshalb hier nur der generelle Tipp: Wenn jemand in seiner Bibelauslegung mit diesem Gegensatz zwischen Altem Testament und Neuem Testament arbeitet, dann ist die Chance hoch, dass da geschwurbelt wird.

Und zwar gleich doppelt: Zum einen wird meistens etwas Falsches über das Alte Testament oder das Judentum behauptet. Und zum zweiten wird oft zusätzlich etwas Falsches über Jesus behauptet.

Beliebte Vorurteile und Mißverständnisse

Ich nenne ein paar Beispiele, die ich hier nicht ausführlich erklären kann. Wenn sie euch interessieren, verlinke ich die entsprechenden Artikel auf der Webseite unter dem Video.

Du weißt, dass du es mit einer geschwurbelten Bibelauslegung zu tun hast, …

  • Wenn dir jemand erzählt, Jesus habe gegen jüdische Sabbatgebote verstoßen.
  • Wenn dir jemand sagt, Juden hätten einen Bogen um das Land der Samariter gemacht.
  • Wenn dir jemand sagt, Juden hätten nicht mit Nichtjuden an einem Tisch sitzen dürfen
  • Wenn dir jemand erzählt, Frauen hätten im Judentum keine Rechte gehabt, wären aber bei Jesus gegenüber den Männern gleichberechtigt gewesen.
  • Wenn dir jemand sagt, Aussätzige wären aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden und man hätte sie nicht berühren dürfen
  • Wenn dir jemand sagt, der Alte Bund würde im Neuen Testament beendet oder aufgehoben
  • Wenn dir jemand erzählt, Nichtjuden wären in Jerusalem von der Teilnahme am Tempelgottesdienst ausgeschlossen worden
  • Wenn dir jemand sagt, Gott hätte in der Apostelgeschichte die jüdischen Speisegebote aufgehoben

Du weißt, dass du es mit einer geschwurbelten Bibelauslegung zu tun hast, …

  • Wenn dir überhaupt jemand erzählt, dass im Neuen Testament alttestamentliche Gebote gebrochen oder aufgehoben werden.
  • Oder einfach immer dann, wenn jemand die Juden oder das Alte Testament negativ darstellt, um dann Jesus und die Christen als revolutionäre Befreier positiv dagegen zu stellen.
Einladung zum Faktencheck

Ich lade dich ein, den Faktencheck zu machen, wo immer irgend etwas über die Juden behauptet wird, ohne dass es mit Fakten belegt wird. Dazu musst du natürlich dein Altes Testament gut kennen und auch mal bereit sein, in echte jüdische Texte selbst reinzuschauen.

Ich lade dich auch ein, den Faktencheck zu machen, wo immer behauptet wird, dass im Neuen Testament das Alte Testament aufgehoben oder für ungültig erklärt wird, sei es grundsätzlich oder in Teilen.

Ich lade dich ein, diesen Faktencheck auch hier nicht nur anhand von meinen Büchern und Aufsätzen zu machen, sondern wieder anhand von bibelwissenschaft.de, zum Beispiel unter den Stichworten Gesetz, Bund, Samariter oder Tempel.

Mit Jesus die Bibel ablehnen?

Am Ende aber lande ich wieder bei der schon bekannten Alternative zwischen „Bibeltexte auslegen“ und „Bibeltexte ablehnen“.

Und ich lade dich ein, den Faktencheck vor allem dann zu machen, wenn jemand neutestamentliche Bibeltexte oder sogar Jesusworte ablehnt mit der Begründung, Jesus selbst habe sich ja auch schon souverän über die Bibel hinweggesetzt.

Prüfe nach, ob das wirklich stimmt und wo er das angeblich tut.

Kritik ja, Schwurbel nein

Die kritische Bibelwissenschaft jedenfalls ist sich heute mit nur ganz wenigen Ausnahmen einig, dass Jesus als gesetzestreuer Jude lebte, dass er weder die Gebote des Alten Testaments brach oder für ungültig erklärte, noch den Alten Bund für beendet, noch das Gottesbild des Alten Testaments durch ein neues ersetzte.

Jesus war kein judenfeindlicher Freiheitskämpfer oder Querdenker a la Attila Hildmann oder Xavier Naidoo.

Wir sollten deshalb auch nicht versuchen, ihn zu einem zu machen.

Schreibe eine Antwort