Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 9: Null Interesse?

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Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 9: Null Interesse?

Herzlich willkommen zu Folge neun dieser kleinen Video-Reihe über seriöse Bibelkritik und unseriöses Bibelschwurbeln.

In der letzten Folge hatte ich über die symbolische Bedeutung von Zahlen gesprochen.

Und wie es der Zufall will, brach gleich am nächsten Tag eine große Diskussion los über die Teilnehmerzahlen einer Demonstration gegen Corona-Einschränkungen in Berlin am 1. August. Die Zahlen 17.000 und 1,3 Millionen werden nun seit Tagen in den Medien thematisiert und in den sozialen Netzwerken geteilt.

Dabei könnte man fast den Eindruck bekommen, dass die Menge der Anwesenden über den Wahrheitsgehalt dessen entscheidet, was auf dieser Veranstaltung behauptet wurde.

„Es gibt keine Pandemie“, das war die These des Organisators. Nun wird der Wahrheitsgehalt dieser These weder durch das Beharren auf 1,3 Millionen Demonstranten bestätigt noch wird er durch das Beharren auf 17.000 Demonstranten widerlegt. Was eine Pandemie ist, dafür gibt es international vereinbarte Definitionen und Kriterien. Und ob die auf die aktuelle Situation zutreffen, darüber entscheiden nicht Mehrheiten, sondern Fakten.

Mehrheiten schaffen keine Wahrheiten.

Mehrheiten können politische Realitäten verändern. Sie können auch Definitionen von Wahrheit verändern. Sie können das Bewusstsein für Fakten schärfen. Aber Mehrheiten können niemals die Fakten selbst verändern. Ob es eine Pandemie gibt oder nicht, wird nicht durch die Anzahl derer bestimmt, die das glauben oder derer, die es leugnen.

In der letzten Folge wollte ich eigentlich noch etwas zur Zahl „Null“ sagen, habe aber dann gemerkt, dass die Folge dann zu lang wird. Deshalb nun noch eine zweite Folge zum Thema „Die Magie der Zahlen“, wobei es heute nur um die Zahl Null geht.

Wir haben ja in dieser Reihe als Fallbeispiel für kritische oder verschwurbelte Bibelauslegung die Frage: Hat Jesus den Menschen mit der Hölle gedroht? Und der bisherige Faktencheck hat das Ergebnis gebracht: Ja, nach allen Erkenntnissen der seriösen kritischen Bibelauslegung hat Jesus den Menschen mit der Hölle gedroht. Das kann man unangenehm finden oder auch unmöglich, man kann es auch ablehnen, aber man kann es nicht durch alternative Auslegung wegschwurbeln.

Aber wie ist es eigentlich mit Paulus? Paulus erwähnt das griechische Wort für Hölle in seinen Briefen kein einziges Mal. Kann man daraus also folgern, dass er im Gegensatz zu Jesus, nicht an die Hölle glaubte? Oder ihm die Hölle zumindest nicht so wichtig war? Für viele Bibelleser klingt das auf den ersten Blick logisch: Null mal erwähnt, Null Relevanz, Null Interesse.

Seriöse kritische Bibelwissenschaft geht aber ganz anders an so eine Frage heran. Weil hier eben nicht Bibelstellen gezählt werden, sondern Inhalte geprüft. Die Zeit ist knapp, aber ich will euch so kurz wie möglich drei Gründe nennen, warum die Zahl Null in vielen Fällen alles andere als unwichtig ist:

Erstens: Nur weil Paulus das Wort nicht erwähnt, heißt das nicht, dass er die Sache nicht erwähnt. Paulus redet nicht, wie Jesus, von der Gehenna. Aber er verwendet andere Begriffe für dieselbe Sache. Er spricht zum Beispiel von „Strafe“ und „ewigem Verderben“ (2. Thess. 1,9), von Verdammnis oder Gericht. Er spricht auch vom Feuer des Gerichts (1. Kor 3,13-15 und 2. Thess 1,8). Ein kritischer Bibelwissenschaftler fragt also nicht nur nach bestimmten Worten, sondern nach Wortfeldern und nach den Vorstellungswelten, die dahinter liegen. Nur weil Paulus das Wort Gehenna nicht erwähnt, bedeutet das also nicht, dass er nicht von derselben Sache spricht und dass sie ihm nicht wichtig ist.

Zweitens: Rob Bell behauptet, dass alles, was uns jemals über die Hölle erzählt wurde, aus den wenigen Bibelstellen stammt, die es dazu im Neuen Testament gibt. Aus der Sicht der kritischen Bibelwissenschaft ist das natürlich Geschwurbel. Warum? Weil vieles, was wir über die Hölle glauben oder über das neutestamentliche Konzept von Hölle wissen, gar nicht aus dem Neuen Testament stammt, sondern aus den vielen vielen anderen jüdischen Schriften, die wir aus der Zeit Jesu kennen. Es wird aber im Neuen Testament ganz selbstverständlich als Glaubensinhalt vorausgesetzt.

Wenn man mal genau hinsieht, dann erklärt Jesus in keinem der genannten elf Bibelverse, was die Hölle eigentlich ist oder was man sich darunter vorstellen soll. Warum? Weil er das als bekannt voraussetzen kann. Was die Hölle ist, das wussten die Leute schon, bevor Jesus kam und bevor das Neue Testament geschrieben wurde. Jesus muss die Hölle nicht definieren. Er spielt darauf nur an, mit dem dürren Wort Gehenna, weil er alles andere als jüdisches Grundwissen voraussetzen kann.

Die Vorstellung, dass man die Bibel wie ein Lexikon verwenden kann, in dem man ein bestimmtes Thema nachschlägt und dann die Definition geliefert bekommt, ist naiv und geschwurbelt. Die Bibel ist kein Lexikon und kein Lehrbuch, in dem man alles wichtige zu jedem beliebigen Thema findet. Sondern die Bibel setzt einen Glauben und religiöses Grundwissen immer schon voraus.

Im Alten Testament zum Beispiel gibt es das Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Es wird aber nirgendwo definiert, was eine Ehe überhaupt ist. Warum? Das wird als bekannt vorausgesetzt. Weil es die Einrichtung der Ehe schon lange gab, bevor dieses Gesetz überhaupt aufgeschrieben wurde.

Genau so muss Paulus nicht erst erläutern, wie er sich als Jude Himmel und Hölle vorstellt. Er kann das bei seinen Zuhörern als bekannt voraussetzten. Worauf es ihm ankommt, ist wie man die Hölle vermeiden und den Himmel erreichen kann. Und davon redet er viel und oft. Seriöse Bibelwissenschaft fragt also nicht nur danach, wie oft etwas im Neuen Testament erwähnt ist. Sondern sie erforscht auch die Umwelt des Neuen Testaments und die große Anzahl von außerbiblischen Quellen, um ein Gesamtbild von dem zu entwerfen, was Juden zur Zeit Jesu glaubten und wussten und was man als selbstverständlich voraussetzen konnte, ohne es ausdrücklich zu erwähnen.

Und das dritte: Wenn man etwas nicht erwähnt, kann das zweierlei bedeuten: Entweder man hält es für unwichtig und nebensächlich. Oder aber man hält es für so selbstverständlich, dass man es nicht extra zu sagen braucht.

Ein Beispiel aus meiner aktuellen Forschung macht das vielleicht deutlich: Ich beschäftige mich gerade mit den Speisegeboten im Judentum und im Neuen Testament. Welche Gebote gab es und von wem wurden sie wie eingehalten. Eines der aktuellsten und umfangreichsten Fachbücher zu dem Thema ist das Buch von Christina Eschner, „Essen im antiken Judentum und Urchristentum“ (Brill 2019), im letzten Jahr erschienen. Unter anderem hat die Autorin alle uns bekannten jüdischen Schriften der Zeit Jesu durchforstet nach Aussagen darüber, welche Speisegebote in den jeweiligen Schriften erwähnt werden und welche in den jeweiligen Ländern und Gemeinden eingehalten wurden.

Sie macht eine interessante Beobachtung: Es gibt zum Einen die vielen Schriften aus der jüdischen Diaspora, also aus jüdischen Gemeinden in der griechisch-römischen Welt, vor allem aus Alexandria in Ägypten, wo Juden als eine kleine Minderheit in einer nichtjüdischen griechischen Umgebung lebten. In diesen Texten ist das Verbot von Schweinefleisch ein immer wieder auftauchendes Thema. Es wird ausführlich thematisiert und beschrieben und es wird immer wieder klar: Für Juden ist Schweinefleisch aufgrund der biblischen Speisegebote absolut tabu. Manche dieser Schriften berichten sogar davon, dass sich manche Juden lieber umbringen ließen als Schweinefleisch zu essen.

Dann gibt es aber noch ganz andere Schriften, zum Beispiel die umfangreichen Schriftrollen vom Toten Meer, die von einer ganz besonders strengen jüdischen Gruppe stammen. Hier nahm man die biblischen Gebote, vor allem die Reinheitsgebote, besonders ernst. Die überraschende Beobachtung war aber nun: In all den vielen Schriften dieser Gemeinschaft vom Toten Meer wird das Verbot von Schweinefleisch kein einziges Mal erwähnt.

Was bedeutet das nun also? Oft erwähnt – großes Interesse? Null mal erwähnt – Null Interesse? Galt das Verbot von Schweinefleisch in der Gemeinschaft von Qumran nicht? Wurde es weniger streng gehandhabt? Oder war es den Leuten einfach nicht so wichtig?

Für einen Bibelschwurbler, der nur Bibelstellen zählt, ist die Sache klar: Was nicht ausdrücklich verboten wird, ist also erlaubt. Wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist es offenbar unwichtig.

Die kritische Bibelforschung kommt aber zu einem genau umgekehrten Ergebnis: Das Verbot von Schweinefleisch wird in den hebräischen Texten von Qumran deshalb nicht erwähnt, weil es dort so selbstverständlich war. Und es wird in den Texten aus Ägypten und Griechenland deshalb so oft erwähnt, weil es dort zu den Themen gehörte in denen sich die jüdische Gemeinde von ihrer nichtjüdischen Umwelt unterschied.

Christina Eschner fasst ihre Beobachtungen so zusammen:

Das Verbot von Schweinefleisch wird in Qumran „auffälligerweise nicht diskutiert. Darin unterscheidet sich (…) Qumran gravierend von […] den Schriften des griechischsprachigen Judentums. […] Dabei war dies offenbar aus dem Grund kein Gegenstand von Diskussionen, weil es in einer Auseinandersetzung unter Juden als gemeinsame Basis vorausgesetzt werden konnte. […] Vor diesem Hintergrund zeigt das Fehlen des Schweinefleischverbotes in den Qumranschriften deutlich, dass das grundlegende und Selbstverständliche keine tiefere Diskussion verlangt und daher nicht explizit wiederholt werden musste. Demgegenüber werden aber jeweils umstrittene Fragen näher behandelt…“ (S. 192-193)

Was heißt das nun übertragen auf Paulus und unsere Frage nach der Hölle?

Paulus erwähnt die Hölle, anders als Jesus, nicht ausdrücklich.
Bedeutet das, dass sie ihm nicht wichtig ist oder er vielleicht gar nicht daran glaubte?

Ein Bibelschwurbler würde so argumentieren. Was da nicht ausdrücklich steht, das hat Paulus auch nicht gelehrt oder geglaubt. Bestenfalls könnte man darüber spekulieren, aber das will man ja nicht.

Die kritische Bibelwissenschaft denkt völlig anders:

Sie sagt: Paulus erwähnt die Hölle nicht, weil sie für ihn selbstverständlich ist, wenn er als pharisäisch geprägter Jude vom Gericht Gottes spricht. Und weil er diesen Glauben bei seinen Hörern als bekannt und unumstritten voraussetzen kann. Das Selbstverständliche muss man nicht extra erwähnen.

Für einen seriösen Bibelforscher ist das auch keine Spekulation, sondern das Ergebnis seriöser wissenschaftlicher Forschung.

Das Fazit aus dieser und der vorangegangenen Folge lautet also: Vorsicht also mit Zahlen.

 

  • Erstens: Mehrheiten schaffen keine Wahrheiten.
  • Zweitens: Die Wichtigkeit eines Themas lässt sich nicht an der Anzahl von Bibelstellen ablesen, in denen es erwähnt wird.
  • Und Drittens: Selbst die Zahl „Null“ muss man sich genauer anschauen, denn sie deutet nicht immer unbedingt auf „Null Interesse“ hin.

 

Im Gegenteil, denn:

  • Erstens: Manchmal denken wir, ein Thema wäre Null mal erwähnt, aber wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir, dass es doch da ist, nur vielleicht in anderen Worten.
  • Zweitens: Wir dürfen nicht nur die Bibelstellen des Neuen Testaments zählen, sondern wir müssen uns ein Gesamtbild des jüdischen Glaubens machen, vor allem auch aus den vielen, vielen außerbiblischen Texten, die den meisten Bibellesern überhaupt nicht bekannt sind.
  • Drittens: Wenn ein Thema überhaupt nicht erwähnt ist, deutet das in vielen Fällen nicht auf „Null Interesse“ hin, sondern darauf, dass es in der jüdischen Welt Jesu selbstverständlich war und zum Allgemeinwissen gehörte.

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