Bibelschwurbel und Bibelkritik. Teil 16: Ist Bibelauslegung Ansichtssache?

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Bibelschwurbel und Bibelkritik. Teil 16: Ist Bibelauslegung Ansichtssache?

In dieser Folge geht es um die Frage, ob eigentlich alles im Leben zwei Seiten hat. Und ob abenteuerliche Verschwörungstheorien und abenteuerliche Bibelauslegungen tatsächlich immer Ansichtssache sind, oder manchmal auch einfach falsch.

„6 oder 9?“

Ein beliebtes Bild, das mir in vielen Online-Diskussionen immer wieder begegnet ist, ist dieses hier: Zwei Männer stehen sich gegenüber und schauen auf eine Zahl, die auf den Boden geschrieben ist. Der eine behauptet, es wäre eine 6. Der andere meint, es wäre eine neun. Und wer hat nun recht? Natürlich beide. Denn das Ganze ist natürlich Ansichtssache. Wie alles im Leben. In der Corona-Frage wie auch in der Bibelauslegung. Das ist die einfache und scheinbar so plausible Botschaft dieses beliebten Bildchens.

Alle Dinge im Leben haben zwei Seiten. Und deshalb sollte man nicht über unterschiedliche Sichtweisen streiten, sondern einfach akzeptieren, dass jeder Recht hat. Meinungen sind eben Ansichtssache. Egal ob es um gegensätzliche Ansichten über Corona geht oder um gegensätzliche Bibelauslegungen. Alles ist Ansichtssache. Und jeder hat Recht, nur eben auf seine Weise.

Alles Ansichtssache?

Der eine denkt, Corona sei eine Bedrohung, der andere hält es für harmlos. Wer hat Recht? Natürlich beide. Es ist eben Ansichtssache. Der eine glaubt, Corona wurde von Bill Gates in die Welt gesetzt, um uns alle mit einem Mikrochip zu impfen, der andere sagt, Angela Merkel hätte Corona erfunden, um in Deutschland endlich die Diktatur einzuführen. Wer hat Recht? Natürlich beide. Es ist eben Ansichtssache. Die einen sagen, da waren 1,3 Millionen Leute auf der Demo in Berlin, die anderen sagen, es waren nur 17.000. Wer hat Recht? Natürlich beide. Denn alles ist ja Ansichtssache.

Aber spätestens bei diesen Beispielen merken wir, dass da etwas faul ist mit diesem Bild von der sechs und von der neun. Ist wirklich alles im Leben Ansichtssache?

Ist Bibelauslegung beliebig?

Wenn das stimmen würde, und wenn das tatsächlich auch für die Bibelauslegung gelten würde, dann heiße das: Jede Bibelauslegung, so absurd und weit hergeholt sie auch ist, hat Recht. Weil eben alles Absichtssache ist? Diese Woche habe ich einen Videoclip im Internet gelesen, in dem aus der Bibel begründet wird, dass man seine Kinder schlagen sollte. Ist das wirklich Ansichtssache, und muss man so eine Bibelauslegung wirklich akzeptieren, weil jeder eben aus seiner Perspektive Recht hat? Oder wenn Präsident Trump als von Gott verheißener Messias bezeichnet wird und das mit der Bibel begründet wird? Auch das war im Internet zu hören vor ein paar Wochen. Ist das Ansichtssache oder ist es ganz einfach falsche Bibelauslegung?

Oder was ist mit dem Beispiel, das wir in dieser Videoserie immer wieder angesehen haben? Dass Jesus in Wirklichkeit gar nie von der Hölle geredet hat, sondern nur von einer Müllkippe in Jerusalem? Ist das wirklich Ansichtssache? Oder ist es einfach eine falsche Bibelauslegung?

Die Sache mit der sechs und mit der neun wird zu einem ganz gefährlichen Bild, wenn man sie einfach zum Grundprinzip bei Meinungsverschiedenheiten erhebt. Und er recht dann, wenn man damit auch noch falsche Fakten vertuscht.

Das Recht auf eigene Fakten?

Ein anderes Zitat, das auch in den vielen Coronadiskussionen immer wieder zu hören war, passt an der Stelle eigentlich auch gut: „Jeder Mensch hat ein Recht auf eine eigene Meinung. Aber niemand hat ein Recht auf eigene Fakten“. Ursprünglich, vor etwa 100 Jahren, hieß das Zitat einmal: „Niemand hat das Recht auf falsche Fakten.“ (Bernard Baruch). Aber „eigene Fakten“ klingt auch ganz schön.

Es ist eben nicht alles Ansichtssache. Es gibt richtige und es gibt falsche Faktenbehauptungen. Und es gibt richtige und falsche Bibelauslegungen.

Drei Gründe, warum das Bild mit der 6 und 9 hinkt

Und ich würde euch gerne heute drei Gründe nennen, warum die Sache mit der sechs und mit der neun ein typischer Fall von Schwurbel ist, wenn man daraus begründet, dass alles Ansichtssache ist, auch die Bibelauslegung.

Erstens: In den allermeisten Fällen gibt es keine Unklarheiten

Der erste Grund: Ist dir schon einmal aufgefallen, dass die Sache mit den zwei Perspektiven nur bei der sechs und der neun funktioniert, aber nicht bei den acht anderen Zahlen? Warum gibt es eigentlich keinen Cartoon, wo mal eine vier oder eine zwei oder eine acht oder eine neun auf dem Boden zwischen den beiden ist? Weil dann ganz klar wäre: Die Mehrheit der Zahlen ist ganz eindeutig, ganz egal aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Und das ist auch die Erfahrung der kritischen Bibelwissenschaft: in der allergrößten Mehrheit der Fälle sind sich die Bibelwissenschaftler einig in ihrer Auslegung. Da gibt es vielleicht Nuancen und kleine Sinnunterschiede, aber keine völlig entgegengesetzten oder einander widersprechenden Aussagen. Hat Jesus den Menschen mit der Hölle gedroht? Kein seriöser kritischer Bibelkommentar würde das bestreiten.

Und so ist es mit der Mehrheit. Es ist ein Märchen aus der Welt der Welt der Bibelschwurbeleien, dass jeder den Bibeltext so auslegt, wie er möchte. Oder dass es zu jedem Bibeltext beliebig verschiedene Auslegungen gibt. Man muss nur ein paar kritische Kommentare von Bibelwissenschaftlern in die Hand nehmen, um das zu merken. Ja,, es gibt Ausnahmefälle, wie die sechs und die neun, wo sich zwei völlig unterschiedliche Auslegungen entgegen stehen. Aber die bleiben die Ausnahme.

Zweitens: Gibt es doch Unklarheiten, hilft meistens der Kontext, sie zu klären

Der zweite Grund: Die Sache mit der sechs und der neun funktioniert ja nur, weil die Zahl völlig ohne Zusammenhang auf dem Boden steht. Wäre es eine Hausnummer, die an der Wand hängt, wäre sofort klar, ob es eine 6 oder eine 9 ist. Wäre es eine Parkplatznummer, die auf dem Boden steht, wäre es ebenso klar, nämlich dann, wenn rechts davon eine 5 und links davon eine sieben steht. Der Zusammenhang klärt also in den meisten Fällen die Unklarheiten, selbst da, wo es sie auf den ersten Blick gibt.

Das gleiche gilt für Bibeltexte: Ja, es gibt Worte, die können zwei unterschiedliche Deutungen haben. Ja, es gibt Sätze, die sind auf den ersten Blick mehrdeutig. Aber in den allermeisten Fällen beseitigt auch hier der Zusammenhang, der Kontext, die Mehrdeutigkeiten. Auch hier ist Bibelauslegung in den allermeisten Fällen nur dann Ansichtssache, wenn man Bibeltexte aus ihrem Zusammenhang reisst.

Drittens: Auch Unklarheiten haben ihre Grenze

Und der dritte Grund: Ja, es gibt sie, die wenigen Fälle, wo selbst der Zusammenhang keine eindeutige Auslegung ergibt und sind sich in den seriösen kritischen Kommentaren unterschiedliche, manchmal auch gegensätzliche Auslegungen finden. Aber selbst in solchen, sehr seltenen Fällen gilt: Es gibt nicht beliebig viele Auslegungen.

Ja, die Zahl auf dem Boden kann eine 6 oder eine 9 sein, und darüber kann man streiten. Aber sie kann eben keine 3, 4 oder 7 sein.

Es ist eher so wie bei einer breiten Straße. Da kann man etwas weiter rechts fahren oder etwas weiter links. Es gibt einen Spielraum und eine Bandbreite der Auslegungen. Und die Bandbreite von Bibelkommentaren bildet diese Bandbreite der möglichen Bibelauslegungen meist ganz gut ab.

Es gibt aber eben auch die schwurbeligen Bibelauslegungen, die sich völlig außerhalb dessen bewegen, was in der seriösen Bibelwissenschaft eine berechtigte Bandbreite der Meinungen ist. Dazu gehört zum Beispiel auch die Sache mit der Hölle und der Müllhalde, die ihr in den ersten Folgen dieser Serie nochmal anhören könnt , falls ihr sie vergessen habt. Aber es gibt auch viele andere Beispiele.

In solchen Fällen reicht es nicht, sich darauf zu berufen, dass Bibelauslegung immer Ansichtssache ist. Und dass man eben nie genau weiß, ob es eine sechs oder eine neun ist. In der seriösen Bibelwissenschaft ist Bibelauslegung nicht beliebig und auch nicht Ansichtssache.

Bibelauslegung kann falsch und auch richtig sein.

Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber eben nicht das Recht auf eigene Fakten. Auch nicht in der Bibelauslegung.

Tatsächlich gibt es richtige und falsche Bibelauslegung. Es gibt gefährliche und unverantwortliche Bibelauslegung. Und es gibt absurde Bibelauslegung. Die Sache mit der sechs und der neun, die ohne jeden Zusammenhang auf den Boden geschrieben ist, ist ein großer Ausnahmefall, der sich auch in der Bibel nur äußerst selten findet. In den allermeisten Fällen lohnt es sich, mit seriösen und wissenschaftlichen Methoden nach der richtigen Bibel Auslegung zu suchen und diese auch zu begründen.

Dass Bibelauslegung in allen Fällen eine Ansichtssache ist und jeder sich seine Auslegung so zurecht legen kann, wie es zu seiner Sichtweite passt, gehört deswegen leider in den phantasievollen, aber auch gefährlichen Bereich des Bibelschwurbelns.

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