Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 17: Liegt die Wahrheit immer in der Mitte?

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Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 17: Liegt die Wahrheit immer in der Mitte?

Die Idee für diese Serie entstand bei mir, nachdem ich in der Coronazeit in den sozialen Medien immer öfter Diskussions- und Argumentationsmuster entdeckt habe, die mir auch bei Auseinandersetzungen um unterschiedliche Bibelauslegungen immer wieder begegnen. Nur, dass diese Muster in den sozialen Netzwerken sehr oft dazu verwendet wurden, absurde Verschwörungstheorien oder erfundene Fakten zu verteidigen.

Heute soll es nochmal um eines dieser Grundmuster gehen, und in der nächsten Folge will ich dann den Sack zubinden und die Serie zu einem Ende bringen. Wir haben uns im Lauf dieser Reihe verschiedene Argumentationsmuster angesehen, angefangen von dubiosen Quellen, über erfundene Fakten, bis hin zu ganz konkreten Einzelfragen der Bibelauslegung. In der letzten Folge ging es dann schon wieder sehr allgemein um die Frage, ob denn wirklich alles im Leben, auch die Bibelauslegung, immer zwei Seiten hat. Und heute geht es um eine ähnlich grundsätzliche Frage, die gar nicht speziell mit Bibel zu tun hat, aber dort auch sehr oft zu finden ist. Nämlich die Frage, ob die Wahrheit wirklich immer in der Mitte liegt.

Populisten lügen ganz bewusst…

Begegnet ist mir die Frage irgendwann im Frühjahr während der ersten Coronawelle. Da liefen die sozialen Medien schon heiß mit verschiedenen abstrusen Verschwörungstheorien über den Ursprung der Coronapandemie oder die finsteren Mächte und Macher, die in Wirklichkeit dahinterstehen, seien es die Juden, die Welteinheitsregierung, die Pharmakonzerne oder die Bill Gates Stiftung.

In dieser Zeit sprang mich ein Zitat von Erik Flügge an. Erik Flügge ist Politikberater und Autor, durchaus politisch nicht unumstritten, aber als SPD-Mitglied zumindest nicht im Verdacht, am extremen Ende des politischen Spektrums zu stehen. Erik Flügge hat auch interessantes Buch über den oft unverständlichen Insiderjargon der Kirchen geschrieben, aber das steht auf einem anderen Blatt.

In den sozialen Medien bin ich nun also auf die folgende Beobachtung von Erik Flügge gestossen, die sich um den politischen Populismus bezieht:

„Populisten lügen ganz bewusst, weil sie wissen, dass die Leute die Wahrheit immer in der Mitte vermuten. Aber die Wahrheit ist nicht in der Mitte zwischen der Lüge und den Fakten zu finden. Die Fakten sind die Wahrheit“ (Erik Flügge).

Ich finde das einen nachdenkenswerten Satz, nicht nur im Blick auf Populismus und Verschwörungstheorien, sondern auch im Blick auf unseren Umgang mit abenteuerlichen Bibelauslegungen.

Bibelauslegung ohne Faktencheck

Nun glaube ich, dass im Bereich der Bibelauslegungen niemand, oder zumindest fast niemand, bewusst Lügen verbreitet. Die meisten Bibelausleger, auch Bibelschwurbler, sind selbst von der Wahrheit ihrer Auslegungen überzeugt. Sie haben sich nur meist nicht die Mühe gemacht, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, zum Beispiel durch einen Faktencheck.

Wir haben das am Anfang dieser Reihe gesehen, wie schnell da eine Theorie entsteht, die den Fakten widerspricht, weil jemand zum Beispiel nur die Hälfte der Fakten zur Kenntnis genommen hat.

Und so eine Theorie verbreitet sich dann durch Predigten oder durch Bücher oder durch Podcasts. Oft, so wie in diesem Fall, ist es eine revolutionäre, neue Lesart der Bibel, die alle bisherigen Bibelauslegungen zu diesem Thema in Frage stellt. Und sie verbreitet sich gerade deshalb so schnell, weil sie so anders und so revolutionär ist.

„Es wird schon irgendwas dran sein“

Und hier setzt das Phänomen ein, das Erik Flügge beschreibt: Man hört auf der einen Seite diese neue, revolutionäre und andere Auslegung der Bibel, und auf der anderen Seite kennt man die bisherige Traditionelle Auslegung, die in allen Kommentaren und Fachbüchern zu finden ist. Und man denkt sich automatisch: Ich kann das zwar nicht beurteilen, ich bin ja kein Fachmann, aber die Wahrheit wird vermutlich irgendwo in der Mitte liegen.

Unser Innerer Wunsch nach Balance und Harmonie und Ausgeglichenheit führt dazu, dass wir entweder denken: Auch wenn sich beide Auslegungen völlig widersprechen, haben sie sicher beide Recht (das wäre dann die Sache mit der 6 und der 9, über die ich in der letzten Folge geredet habe). Oder aber wir denken uns: Vermutlich sind beide Auslegungen einseitig, die Wahrheit liegt bestimmt in der Mitte.

Die Sache mit der Hölle

In dieser Serie haben wir uns als Fallbeispiel ein unbequemes Thema ausgesucht: Jesus und die Hölle. Hat Jesus über die Hölle geredet? Wenn ja, was hat er damit gemeint? Und hat er den Menschen mit der Hölle gedroht.

Eine unbequeme und sperrige Frage, zugegebener Maßen. Die traditionelle Bibelauslegung, und auch die wissenschaftliche Fachwelt, ist sich einig: Ja, Jesus hat, wie eigentlich alle uns bekannten jüdischen Lehrer, von der Hölle gesprochen und auch damit gedroht. Und er meinte damit eine Realität, die nach dem Tod auf den Menschen wartet, und die mit dem letzten Gericht am Ende der Tage zusammenhängt.

Eine neue, revolutionäre und andere Auslegung ist aber die, dass Jesus in Wirklichkeit nicht von einer jenseitigen Hölle gesprochen hat, sondern von der Müllhalde vor den Toren Jerusalems, die nur so etwas wie ein Sinnbild für den Müll unseres Lebens und für das viele Leid in der Welt ist. Wenn das stimmt, würde es die christliche Lehre von der Hölle der letzten 2000 Jahre über den Haufen werfen.

Was machen wir also damit? Die wenigsten von uns würden vermutlich sagen: Rob Bell hat sicher Recht mit seiner Theorie. Weil die meisten von uns das weder prüfen noch beurteilen können. Dazu fehlt uns die Kenntnis des antiken Judentums und der nötigen Quellen.

Aber die meisten von uns würden intuitiv sagen: Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Vermutlich hat Rob Bell ein bisschen Recht, wenn auch nicht ganz. Und vermutlich ist die traditionelle Bibelauslegung zwar nicht völlig falsch, aber sie wird durch diese neue Theorie zumindest deutlich in Frage gestellt.

Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte.

„Nur Fragen gestellt…“

Auch hier zeigt sich, dass das populistische Prinzip wirkt. Auch dann, wenn es nicht immer ganz überzeugen kann: Es erzeugt auf jeden Fall einen Zweifel, eine Unsicherheit. Die Vermutung: „Nichts genaues weiß man nicht.“ Wenn selbst die Experten so unterschiedlicher Meinung sind, dann muss ja irgendwas dran sein an dieser Sache. Auch wenn ich sie selbst nicht überprüfen kann.

Das Prinzip von der Wahrheit in der Mitte schafft also zumindest eines: Es schafft Unsicherheit und das, was man eine „Hermeneutik des Verdachts“ nennt: Vielleicht ist es ja doch alles ganz anders. Auf jeden Fall kann es nicht so sein, wie ich bisher dachte und glaubte.

Es ist deshalb auch kennzeichnend für Rob Bells Buch, und viele Bücher und Podcasts diueser Art, dass sie nur ganz wenige wirkliche Thesen aufstellen und ansonsten vor allem Fragen stellen. denn Fragen stellen ist natürlich erlaubt und wichtig.

Und die Formel „Man wird ja wohl noch fragen dürfen“ ist auch unter Verschwörungstheoretikern sehr beliebt.

Warum? Weil wir Menschen so gestrickt sind, dass wir die Wahrheit in der Mitte vermuten. Und wenn die Frage erst einmal im Raum steht, dann vermuten wir meist auch, dass etwas wahres dran ist an dem, was da gefragt wird.

Aber nochmal zurück zu Erik Flügge.

Seine These ist: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte zwischen Lüge und Fakten. Sondern die Fakten sind die Wahrheit.

Entscheidend ist also die Frage, ob die Fakten stimmen. In unserem Beispielfall, der These von Rob Bell, würde ich nicht von Lüge sprechen, sondern von Irrtum, von Halbwahrheit, von Halbwissen, von Falschinformation. Oder einfach von mangelnder Sachkenntnis.

Trotzdem gilt auch hier: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte zwischen Fakten und Irrtum. Sondern die Fakten sind die Wahrheit.

In unserem Beispielfall haben wir schon in Folge drei gesehen, dass die Theorie von Rob Bell nicht wirklich auf einer neuen Bibelauslegung beruht, sondern einfach auf falschen Fakten.

Die Mitte zwischen Bibelkritik und Bibelschwurbel?

Deshalb gilt auch in diesem Fall: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte zwischen Irrtum und Fakten. Sondern die Fakten sind die Wahrheit.

Wenn es also wirklich um seriöse Bibelauslegung geht, dann sollte man nicht vorschnell die Wahrheit in der Mitte vermuten. In der Mitte zwischen allen Auslegungen, die angeboten werden. Und man sollte auch nicht vorschnell resignieren und sagen: Wenn es so viele Ansichten gibt, dann kann man sicherlich nichts Genaueres sagen.

Kritische Bibelwissenschaft geht anders vor: Sie prüft erst einmal alle angebotenen Auslegungen auf ihre Plausibilität. Sie macht den Faktencheck. Sie fragt nach Quellen und nach Belegen, da wo Behauptungen aufgestellt werden. Und dann unterscheidet sie zwischen seriösen Auslegungen und geschwurbelten Auslegungen.

Und die Wahrheit liegt dann nicht in der Mitte zwischen beiden.

Sondern sie liegt auf der Seite der seriösen Auslegung.

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