Der jüdische Jesus und die christlichen Schubladen

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Das jüdische Erbe und die Herausforderungen der Gegenwart

Für viele Christen ist die Beschäftigung mit dem Judentum ein Randthema ihres Glaubens. Manchen ist es sogar suspekt. Sie fürchten den Rückfall in Gesetzlichkeit, fundamentalistische Bibelauslegung, haltlose Endzeitspekulationen oder politische Einseitigkeiten im Nahostkonflikt. Ich selbst habe lange Zeit zu diesen Israel-Skeptikern gehört und kann ihre Ängste deshalb bis heute gut verstehen.

In den letzten Jahren aber ist die Begegnung mit dem Judentum für mich ein echtes Herzensanliegen geworden. Warum? Weil ich entdeckt habe, dass es dabei nicht um ein Randthema unseres Glaubens geht, sondern um das Zentrum: Um Jesus. Wenn es stimmt, das Jesus ein Jude war und dass unser Neues Testament in der jüdischen Welt des ersten Jahrhunderts entstand, dann müssen wir das Judentum kennen und verstehen, um Jesus zu kennen und zu verstehen. Unser Bild des Judentums ist aber getrübt durch viele Missverständnisse und Vorurteile, die in einer langen Geschichte christlicher Judenfeindschaft wurzeln.

Der jüdische Jesus und die Jesusbilder der Gegenwart

Die Beschäftigung mit der jüdischen Welt Jesu kann deshalb für uns heute eine ganz wichtige Hilfe sein, Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen unserer eigenen Zeit zu erkennen und zu überwinden: Wir erleben ja in unseren Gemeinden derzeit eine zunehmende Spannung zwischen konservativen und progressiven Strömungen, zwischen „Traditionalisten“ und „Revolutionären“. Die einen halten fest an dem, was schon ihre Großeltern glaubten. Sie wünschen sich Beständigkeit und wollen das Bewährte bewahren. Die anderen wünschen sich Veränderung, stellen das Überlieferte in Frage und wollen alte Zöpfe radikal abschneiden. Die einen klammern sich manchmal verzweifelt an die vermeintlich heile Welt des 19. Jahrhunderts. Die anderen klammern sich manchmal ebenso verzweifelt an die vermeintlich heilbringende Welt des 21. Jahrhunderts. Und hier liegt die Chance: Denn Jesus, der Jude, lässt sich in keine dieser beiden Welten hineinpressen. Er war kein pietistischer Erweckungsprediger, aber auch kein postmoderner Blogger oder Eventpastor. Sondern ein jüdischer Lehrer des ersten Jahrhunderts. Er lebte in einer Welt, die für beide Seiten fremd ist. Aber gerade in dieser Fremdheit der antiken jüdischen Welt kann er unsere modernen (und postmodernen) christlichen Welten erfrischend in Frage stellen: In manchem bestätigt er uns, in manchem ärgert er uns, in manchem verstört er uns und in manchem inspiriert er uns. Auf jeden Fall aber fordert er uns heraus, unsere lieb gewonnenen Jesusbilder neu zu überdenken.

Ich möchte in diesem Beitrag einige Lernfelder nennen, in denen ich aus der Begegnung mit dem Judentum besonders viel gelernt habe. Der Platz lässt es nicht zu, dabei ins Detail zu gehen. Aber wenn das Interesse geweckt ist und die Bereitschaft vorhanden, dann ist es ein Leichtes, mehr zu erfahren: Angefangen beim Besuch in der örtlichen  Synagoge, über die Lektüre von jüdischen Autoren oder Webseiten, bis hin zum Studium der antiken jüdischen Quellen und Texte oder einer Reise ins Land Israel: es gibt viele Wege, in die überraschende, fremde, andersartige Welt des Judentums einzutauchen. Sie alle lohnen sich.

Lernfeld 1: Erdverbunden glauben

Der jüdische Glaube ist ein sehr irdischer Glaube. Das ärgert manche Traditionalisten, viele Revolutionäre dagegen wird es freuen. Es war für mich ein Aha-Erlebnis, als ich während eines Vortrags in einer Synagoge in Jerusalem der Rabbi einmal fast nebensächlich sagte: „Hier liegt der große Unterschied zwischen Judentum und Christentum. Im Christentum geht es nur um den Himmel und wie man hineinkommt. Im Judentum geht es darum, die Erde nach Gottes Weisungen zu gestalten.“ In mir regte sich sofort der Protest. Natürlich weiß ich, dass die Bibel von ihren ersten Seiten an den Auftrag gibt, die Erde zu bebauen und zu bewahren und in Gottes Namen umzugestalten. Und dass dieser Auftrag auch im Neuen Testament nicht zurückgenommen wird. Aber ich konnte auch nachvollziehen, woher das Vorurteil des Rabbis kommt. Für viele Christen – vor allem unter den Traditionalisten – hatte der Himmel lange Zeit Priorität vor der Erde, und aus allem Irdischen hat man sich so gut es geht herausgehalten. Theologie war für uns Christen oft wichtiger als das gelebter Glaube, Theorie wichtiger als Praxis.

Im Lager der Revolutionäre hat man in letzter Zeit die Erdverbundenheit des biblischen Glaubens für sich neu entdeckt – und dabei manchmal den Himmel ganz abgeschafft. In der jüdischen Tradition aber gehört beides eng zusammen. „Das Joch des Himmelreiches auf sich nehmen“ – eine Formulierung der jüdischen Rabbinen – heißt, nach Gottes Maßstäben in dieser Welt zu leben. „Tikkun Ha-Olam“, zur Heilung (oder Vollendung) der Erde beitragen, das ist ein wichtiger Grundsatz jüdischer Ethik. Und tatsächlich: Liest man die Evangelien, dann wird deutlich, dass auch bei Jesus, dem Juden, Nachfolge ganz viel mit dem einfachen, bodenständigen Alltagsleben zu tun hat. Der Weg in den Himmel beginnt mit dem nächsten Schritt auf der Erde.

Lernfeld 2: Mit allen Sinnen feiern

Die Erdverbundenheit des jüdischen Glaubens zeigt sich auch in der jüdischen Spiritualität: Hier wird mit allen Sinnen geglaubt. Mit Symbolen, Kerzen und Gesten. Wichtige biblische Inhalte werden immer mit gutem Essen und einem Schluck Wein verbunden. Im Gottesdienst wird die Torarolle ehrfürchtig geküsst, das Wort Gottes wird ganz sinnbildlich auf die Stirn gebunden. Und getanzt wird sowieso. Traditionalisten finden so etwas zwar bei Juden gut. Wenn Christen es machen, fürchten sie jedoch versteckten Katholizismus und einen gefährlichen Geist der Religiosität. Denn bei Jesus, so denken sie, kommt es nicht auf Äußerlichkeiten, sondern allein auf das innere an. So finden wir in traditionellen Gemeinden wir oft eine blutleere, kopflastige Spiritualität ohne Beteiligung der Sinne.

Aber auch Revolutionäre tun sich manchmal schwer mit Ritualen und Bräuchen: Die Tempelreinigung ist für sie ein Sinnbild dafür, alle religiösen Konventionen und Traditionen über den Haufen zu werfen. Jesus war gegen alle religiösen Regeln: Er kannte keine liturgischen Formen, hielt sich nicht an Traditionen oder Kalender, pflegte keine religiösen Rituale, keine festgelegten Gebetszeiten oder -formen. Das jedenfalls glauben sie. Ein Blick ins Neue Testament würde sie aber eines schnell eines besseren belehren. Wer die jüdische Welt kennt, der entdeckt an vielen Stellen Hinweise darauf, wie sehr Jesus als Jude in den Bahnen traditioneller jüdischer Spiritualität lebte, feierte und betete.  Vom jüdischen Jesus können hier also beide Seiten viel lernen: Die verinnerlichten Traditionalisten wie die formfeindlichen Revolutionäre.

Lernfeld 3: Eine Wertschätzung der guten Werke

„Auf drei Dingen beruht die Welt: Auf Gottes Weisung (tora), unserem Gottesdienst (avoda) und auf Werken der Barmherzigkeit (gemilut chasadim)“, heißt es in der jüdischen Mischna (Avot 1,2). Die unselige Gegenüberstellung von „Glauben und Werken“ hat dagegen bei uns Christen dazu geführt, dass gute Werke als etwas anrüchiges, ja fast gefährliches galten. Traditionalisten fürchten um das „sola fide“, wenn Revolutionäre zu mehr sozialem Engagement aufrufen. Sie warnen vor christlichem Aktionismus und vor Werkgerechtigkeit. Aber durch Werke gerecht zu werden ist etwas anderes als Werke zu tun. Das erste nämlich wird auch im Judentum abgelehnt: Rabbi Antigonos etwa sagte bereits im 2. Jh. vor Christus: „Seid nicht wie Knechte, die ihrem Herrn nur dienen, um dafür Lohn zu empfangen. Sondern seid wie Knechte, die ihrem Herrn ohne Erwartung eines Lohns dienen. Tut alles aus Ehrfurcht vor Gott!“ (Mischna Avot 1,3). Und ein Blick ins Neue Testament zeigt: Sowohl Jesus (Mt 5,16) als auch Paulus (Röm 2,7) teilen die jüdische Wertschätzung für gute Werke. Ja, wir sollen nicht versuchen, durch sie unser Heil zu verdienen. Und ja, wir sollen nicht mit ihnen prahlen oder sie in sozialen Netzwerken für PR-Zwecke missbrauchen (und an dieser Stelle müssen manche Revolutionäre in der Tat aufpassen). Aber dass wir gute Werke tun sollen, darin können wir unseren jüdischen Nachbarn getrost nacheifern (Titus 2,7).

Lernfeld 4:  Eine Wertschätzung des Gesetzes

Dieser Punkt wiederum ärgert die Revolutionäre und freut eher die Traditionalisten: Die jüdische Tradition pflegt eine hohe Wertschätzung des Gesetzes und der Gebote Gottes: Gleich mehrere Feste im Jahr feiern das Geschenk des Gesetzes und die Freude über das Gesetz. Das Gesetz ist Gottes gute Weisung für das Leben, und auch wenn keiner es wirklich erfüllen kann, so zeigt es doch die Richtung an, in der gelungenes Leben zu finden ist. Rabbi Nechanja ben Hakkana sagte es so: „Wer das Joch des Gesetzes auf sich nimmt, der ist frei vom Joch anderer Menschen und Machthaber“ (Mischna Avot 3,5). Deshalb beginnt das erste der zehn Gebote ja auch mit der Zusage der Freiheit (Ex 20,2). Natürlich ist dabei auch im Judentum – schon zur Zeit Jesu – klar, dass Gebote des Alten Testaments nicht eins zu eins in die Gegenwart übernommen werden können, sondern verantwortlich ausgelegt werden müssen.

Im Christentum dagegen hat das Gesetz ein schlechtes Image: Traditionalisten neigen dazu, Menschen mit dem Gesetz zu knechten, um sie dann durch das Evangelium wieder zu befreien. Das Gesetz, so meinen sie, dient nur dazu, uns anzuklagen und zu verurteilen. Revolutionäre möchten deshalb das Gesetz auch lieber ganz abschaffen, weil es den Menschen nur einengt und seine Freiheit begrenzt. Beide berufen sich mit ihrer Abneigung gegen das Gesetz auf das Neue Testament: Jesus und Paulus, so wird gesagt, hätten sich auch nicht an das Gesetz gehalten, sondern es in großer Freiheit gebrochen und letztendlich sogar abgeschafft. Ein unverstellter Blick ins Neue Testament zeigt allerdings auch hier, dass hier die christlichen Vorurteile lauter sprechen als die Realität:  Sowohl Jesus (Mt 5,17) als auch Paulus (Röm 7,12) teilten die jüdische Wertschätzung für das Gesetz. Zwar kann es für sie, wie für alle Juden, nie ein Weg zur Erlösung sein. Das ist ja auch nicht seine Aufgabe. Es soll den guten Weg zeigen, kann uns aber nicht dazu zwingen, ihn auch zu gehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nicht mehr daran halten sollen. Dass Jesus und Paulus den Sabbat gebrochen, Reinheits- oder Speisegebote gebrochen hätten, ist ein altes christliches Vorurteil, das nur entstehen konnte, weil wir uns als Christen zu wenig mit den jüdischen Gesetzen auskennen. Moderne jüdische Gelehrte dagegen weisen darauf hin, dass in all diesem Fällen keine jüdischen Gesetze gebrochen wurden. Ganz im Gegenteil: Jesus und Paulus bleiben bemerkenswert gesetzestreu und spiegeln so die jüdische Ehrfurcht vor dem Gesetz wieder. Beide warnen mehrfach vor Gesetzlosigkeit (anomia), aber nie vor Gesetzlichkeit. Kann es sein, dass wir hier als Christen aus lauter Angst vor einem Missbrauch des Gesetzes eine falsche Abneigung gegen das Gesetz als solches entwickelt haben? In der jüdischen Tradition und im Neuen Testament finden wir einen Weg, die Liebe zu Gottes Geboten und die Liebe zum Menschen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern mit einander zu verbinden. Eben weil Gottes Gebote das Beste für den Menschen im Sinn haben.

Lernfeld 5: Eine ausgewogene Theologie der Gnade

Natürlich wissen auch Juden, wie wir, dass niemand das Gesetz halten kann. Deshalb ist der höchste Feiertag im jüdischen Kalender auch nicht das Fest des Toraempfangs (Pfingsten) sondern der Tag der Sühne (Jom ha-kippurim). Er erinnert daran, dass in der Bibel nicht die menschliche Leistung, sondern die Gnade und Vergebung Gottes die Grundlage unserer Beziehung zu Gott bildet. Aber auch daran, dass Versöhnung etwas kostet. Dabei muss aber nicht das Opfer der Menschen einen ungnädigen Gott erst gnädig stimmen, sondern es ist in der Bibel immer schon Gott, nicht der Mensch, der das Opfer bereitstellt (Gen 22,8; Ex 32,34; Gen 3,21). Der Versöhnungstag ist daher im jüdischen Verständnis ein Geschenk Gottes. Ein rabbinisches Gleichnis erzählt davon, wie der König die Schuld eines Knechtes begleicht, indem er sich selbst als normaler Bürger verkleidet und die Schuld seines Knechtes mit seinem eigenen Geld bezahlt.

Im Neuen Testament ist es diese jüdische Theologie des Versöhnungstags, die dem Tod Jesu seine Bedeutung gibt: Schuld wird ernstgenommen und nicht einfach ignoriert. Versöhnung ist kein leichter Schritt, sondern sie kostet etwas. Aber nicht wir sind es, die den Preis bezahlen, sondern Gott selbst.

In unseren Gemeinden droht dieses ausgewogene jüdische Verständnis der Gnade manchmal verloren zu gehen. Bei manchen Traditionalisten klingt die Botschaft vom Kreuz so, als müsste ein zorniger Gott erst durch das Opfer seines Sohnes gnädig gestimmt werden. Und die Schuld der Menschen erscheint manchmal größer als die Vergebung Gottes. Manche Revolutionäre dagegen möchten auf den Sühnetod Jesu ganz verzichten und verstehen Gnade als ein fröhliches Überspielen von Sünde. Der jüdische Jesus dagegen stellt sowohl die gnadenlose Sühnetheologie der Traditionalisten als auch die sühnelose Gnadentheologie der Revolutionäre in Frage: Gnade ist kostbar, weil sie etwas kostet. Die gute Nachricht ist aber, dass der König selbst die Kosten trägt.

Lernfeld 6: Entdeckerliebe zur Schrift

Von der jüdischen Tradition können wir enorm viel lernen, was die Bibelauslegung betrifft. Die jüdische Bibelauslegung ist einerseits sehr wortgetreu, andererseits aber auch sehr kreativ: Jedes einzelne Wort wird gedreht und gewendet, von allen Seiten betrachtet, und gerade dadurch werden verschiedene Nuancen und Farben seiner Bedeutung entdeckt. Siebzig Gesichter hat die Tora, sagen die jüdischen Rabbinen, und sie verweisen dabei auf das Schriftwort: „Ist nicht mein Wort wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt?“ (Jer 23,29). So wie der Felsen in viele Stücke zerspringt, wenn man ihn gründlich abklopft, so entfaltet auch das Bibelwort seine Bedeutung erst durch intensives Studium. Auch im Neuen Testament finden wir Beispiele einer Bibelauslegung, die sich auf den Wortlaut gründet, aber dennoch kreative Auslegungen findet (z.B. Mt 2,15; Apg 2,24-31; Gal 3,16; 1. Kor 10,4).

Christlichen Traditionalisten betonen oft den Wortlaut, fürchten aber die Kreativität der Auslegung. Verbissen suchen sie nach er einen und einzigen richtigen Deutung. Revolutionäre dagegen trauen oft dem einzelnen Wort nicht mehr viel zu, und suchen kreativ nach den vermeintlichen „großen Linien“ der Bibel – die dann aber oft nur die „großen Linien“ ihrer eigenen Zeit sind. Beide Seiten könnten in der jüdischen Tradition eine Inspiration finden, den Hammer noch einmal in die Hand zu nehmen und das Wort selbst auf seine Tragfähigkeit und seine Vielfalt zu prüfen.

Lernfeld 7: Die Leichtigkeit des Glaubens

Es gäbe noch viele andere Punkte, in denen wir von der jüdischen Art zu glauben viel lernen können. Der Platz reicht nicht aus, sie alle zu nennen. Ich schließe daher mit einer letzten Beobachtung: Ich habe in jüdischen Gemeinden, Familien und Festen eine Leichtigkeit des Glaubens erlebt, die mir in der christlichen Gemeinde oft fehlt. Simcha, die Freude, ist ein göttliches Gebot an jedem jüdischen Fest. Humor und Witz spielen in der Bibelauslegung eine wichtige Rolle. Ausgelassene Freude zeigt sich nicht nur im Tanzen, sondern auch im herzhaften Lachen und in der Fähigkeit, sich selbst nicht so wichtig und ernst zu nehmen. Im Talmud wird erzählt, wie Gott selbst einmal laut lachen muss, als eine Gruppe von Rabbinen ihn in einer Frage der Bibelauslegung mit Argumenten aus der Schrift überstimmt. „Meine Kinder haben mich besiegt“, ruft er aus und schmunzelt dabei.

In unseren Gemeinden gibt es oft nur wenig zu lachen. Bei den Traditionalisten geht es ernst und streng zu, weil das ganze Gewicht der Ewigkeit auf jedem Wort lastet. Bei den Revolutionären wird zwar Begeisterung geschürt und der Fun-Faktor betont, aber die Freude wirkt auf mich oft angestrengt und aufgeheizt. Selbst der beißende Humor christlicher Comedy kann zwar laut über die Fehler und Macken der anderen Lachen, nimmt sich selbst dabei aber immer unheimlich ernst. Ich wünsche mir deshalb manchmal die schlichte Fröhlichkeit und ausgelassene Narrenfreiheit, die ich in jüdischen Synagogen erlebt habe. Wenn wir uns selbst nicht so fürchterlich wichtig nehmen würden, dann würden unsere Herzen vielleicht wieder frei für die Dinge, die Gott wichtig sind. Von Rabbi Hillel ist der Spruch überliefert: „Trau dir selbst nicht über den Weg, bis zum Ende deines Lebens“ (Mischna Avot 2,5)

In der Begegnung mit dem jüdischen Glauben habe ich gelernt, dass Lernen und Zuhören oft hilfreicher sind als Wissen und Belehren. Und ich habe immer wieder erlebt, dass Überzeugungen und Wahrheiten, die ich so sicher zu wissen glaubte, in Frage gestellt wurden, wenn ich mich mit offenem Herzen und Lernbereitschaft aufgemacht habe, die jüdische Welt des Neuen Testaments zu besser kennenzulernen. Die Welt von Jesus und Paulus, die Welt von Hillel und Schammai.  Auch wenn mir manches hier zunächst fremd und ungewohnt erschien, hat es mich herausgefordert, neu zu denken und umzudenken. Und nicht selten habe ich hier, in der jüdischen Welt des ersten Jahrhunderts, überraschende Antworten gefunden, die mir auch im 21. Jahrhundert neue Wege des Denkens und Glaubens eröffneten, jenseits der ausgetretenen Pfade von Tradition und Revolution.

 

Der jüdische Jesus und die christlichen Schubladen
In: Diener, Michael (Hg.): Weiter. Echter. Tiefer: Leidenschaftlich glauben.
Gießen: Brunnen Verlag 2019, S. 34-45
01.03.2019

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