Lernen im Interreligiösen Dialog

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Es gab Zeiten, in denen der Begriff „interreligiöser Dialog“ ein Reizwort für Christen war. Zumindest für solche Christen, die sich der Bibel und einem traditionellen Glauben an Jesus Christus verpflichtet fühlen. Wer vom „interreligiösen Dialog“ sprach, der stand im Verdacht, seinen Glauben aufzugeben und die Grenzen zwischen Wahrheit und Götzendienst zu verwischen. Verschiedene Gefahren sah man mit dem „interreligiösen Dialog“ verbunden:

 

  • Die Gefahr des Synkretismus oder der Religionsvermischung: Wer sich auf ein Gespräch mit Vertretern anderer Religionen einlässt, der laufe Gefahr, die Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen. Eine Auflösung der Grenzen führe aber letztlich zu einem Götzendienst, bei dem nicht nur der Gott der Bibel, sondern auch andere Götter oder Mächte anerkannt, verehrt oder sogar angebetet würden.
  • Das Ende der Mission: In den Grundsatzstreitigkeiten über die Zukunft der Weltmission in den 1970er Jahren waren „Mission“ und „Dialog“ zwei entgegengesetzte Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen. Wer „Mission“ betreibt, so hieß es, sei nicht dialogfähig. Er wolle nicht mit dem anderen reden und schon gar nicht zuhören, sondern ihm seinen Glauben aufdrängen oder aufzwingen. „Mission“ sei doktrinär, latent gewalttätig, undemokratisch und deshalb vorgestrig. Umgekehrt wurde argumentiert, ein „Dialog“ verzichte von vornherein auf den eigenen Wahrheitsanspruch, kehre Meinungsverschiedenheiten unter den Teppich und führe letztlich zu einem Ende der Mission.
  • Die Gefahr, mitschuldig zu werden: Auf einer eher persönlichen Ebene fühlen sich viele Christen verantwortlich für das Seelenheil jedes Menschen, mit dem sie ein Gespräch führen. Das hat zur Folge, dass man mit einem “Nichtchristen“ (wie immer man das definiert), entweder gar nicht erst redet. Oder, wenn man denn mit ihm redet, dann nur darüber, wie er das ewige Leben erhalten kann. Alle anderen Gesprächsthemen, etwa das Wohlergehen der Familie, das Fußballspiel am Wochenende oder gar religiöse Erfahrungen des anderen, empfindet man quasi als ein Verbrechen am Gegenüber: Denn man belässt ihn willentlich in einem falschen Glauben, und das, obwohl man um seine ewige Verlorenheit weiß. Diesem Dilemma möchte man sich ungern aussetzen. Für viele Christen gibt es daher im Gespräch mit anderen Religionen nur zwei Möglichkeiten: Sie völlig zu meiden oder sie zu bekehren. Für ein Gespräch über andere Themen ist dazwischen kein Platz.

 

Aufgrund dieser Ängste gibt es  in vielen christlichen Gemeinden eine große Zurückhaltung im Blick auf das Gespräch und die Begegnung mit anderen Religionen. Man fürchtet, unerlaubte Grenzen zu überschreiten oder mitschuldig zu werden am Irrtum des anderen. Daher hält man sich von diesem Thema lieber fern.

Es gibt aber auch eine Kehrseite dieser vorsichtigen Haltung: Denn durch sie wächst in unseren Gemeinden eine ganze Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen heran, die zwar in ihrem schulischen und beruflichen Umfeld mehr und mehr mit Menschen anderer Religion, vor allem aus islamischem Hintergrund, in Berührung geraten, aber durch ihre christliche Prägung nie wirklich gelernt haben, diesen Menschen auf ernsthafte, ehrliche und differenzierte Weise zu begegnen. Stattdessen bewegt man sich oft zwischen zwei Extremen:

Auf der einen Seite steht eine „dämonisierende“ Sicht der anderen Religion: Nicht selten hört man überzeugte Christen über Muslime sehr abfällig reden: Man macht sich über ihre, vermeintlich gesetzliche, Gebetspraxis lustig. Man klagt über die Unmenschlichkeit des Fastengebots. Man bedauert die armen Muslime, die sich mit ihren guten Taten den Himmel verdienen müssen. Man verweist auf die hohe Quote muslimischer Täter im Bereich des weltweiten Terrorismus. Man bezeichnet den Gott der Muslime als arabischen Wüstendämon und Mohammed als Lügner und Kinderschänder. In christlichen Youtube-Videos wird triumphierend auf Irrtümer und Fehltritte des Islam hingewiesen und lange Listen von Argumenten weisen nach, warum das Christentum dem Islam überlegen ist. Jeder Christ, der ein gutes Wort über einen Moslem findet oder auch positive Seiten des Islam beim Namen nennt, gilt als Verräter am eigenen Glauben.

Viele Christen, die dieser Linie nicht folgen wollen, verfallen aber andererseits sehr leicht in das gegenteilige Extrem: Weil man nie gelernt hat, sich differenziert mit dem Anderen auseinanderzusetzen, und eigentlich auch wehr wenig über den anderen weiß, ist die Alternative zur Dämonisierung nur die romantische Verklärung des Anderen: Man lobt den Glaubenseifer der Muslime, verweist auf den freundlichen muslimischen Nachbarn im Laden an der Ecke und unterstreicht, dass der „eigentliche“ Islam ja eine Religion des Friedens ist. Man betont, dass „die Medien“ allgemein ein ganz falsches Bild des Islam zeichnen und bekämpft jede Kritik am Islam als „Islamophobie“ oder „Antiislamismus“. In Fernsehfilmen und Krimis ist es schon fast ein absehbares Muster, dass hinter dem anfangs als Hauptverdächtiger dastehenden muslimischen Täter in Wirklichkeit eine Gruppe weißer amerikanischer Rassisten oder eine Gruppe deutscher Edel-Neonazis steht. Man möchte nicht über islamischen Terror sprechen und verweist stattdessen immer wieder darauf, dass auch Christen Gewalttaten begehen. Vor allem aber sieht man sich mit der überraschenden, aber sicher unbestreitbaren Tatsache konfrontiert, dass viele muslimische Mitmenschen in der Tat bessere Menschen sind als man selbst. Und auch als viele der Christen, die man in seinem Leben bisher kennengelernt hat, und die man doch eigentlich immer für die beste Sorte von Menschen hielt.

Ich habe in den letzten Jahren immer wieder beobachtet, wie junge Christen innerhalb von kürzester Zeit vom einen ins andere Extrem wechselten. Und zwar vor allem dann, wenn sie aus dem geschützten Umfeld einer christlichen Gemeinde in die offene Welt eines Studien- oder Berufslebens wechselten und dann, oft zum ersten Mal, Menschen aus anderen Religionen tatsächlich auf Augenhöhe begegneten. Nicht als anonyme Passanten bei Straßen- und Missionseinsätzen, sondern als Kommilitonen, Kollegen oder WG-Genossen. Das lang gehegte Feindbild, das sich oft nur aus christlichen Büchern und Internetseiten speiste, hielt dann der Begegnung mit der Realität nicht lange stand. Eine echte Alternative zum schwarz-weiß gefärbten Klischee gab es aber auch nicht: Nicht in grauen Schattierungen und erst recht nicht in Farbe. Mit anderen Worten: Man hatte nie gelernt, differenziert hinzuschauen oder hinzuhören, und Gutes von weniger Gutem, Richtiges von Falschem, Vorzüge von Nachteilen zu unterscheiden. Man hatte es nie gelernt, das Gute im Anderen wertzuschätzen, selbst wenn man seinen Glauben nicht teilt. Und so gab es nur den Weg vom einen Extrem ins andere: Weil meine muslimische Kollegin im Kindergarten ein wirklich toller Mensch ist, muss doch auch ihr Glaube richtig sein, und also muss ich meinen bisherigen Glauben gründlich in Frage stellen. Wozu brauche ich Jesus noch, wenn ich auch ohne ihn ein guter und gläubiger Mensch sein kann? So führt die erste echte Begegnung mit der anderen Religion bei vielen Christen nicht selten zu einer Grundsatzkrise im eigenen Glauben.

Interreligiöse Dialogfähigkeit zu lernen, sollte daher zu den Grundkompetenzen gehören, die wir Christen in unseren Gemeinden und Ausbildungsstätten von Anfang an vermitteln. Nur wenn sie ein differenziertes Instrumentarium und eine vielfältige Kommunikationsfähigkeit in der Begegnung mit anderen Religionen erlernen und entwickeln, können Christen den Gefahren einer Dämonisierung oder Romantisierung des Andersgläubigen begegnen. Und, so überraschend es für viele klingen mag: Eine solche Fähigkeit zum Dialog wird am Ende auch eine missionarische (oder, im heutigen Jargon, eine „missionale“) Existenz nicht verhindern, sondern letztlich fördern: Denn aus Dialogfähigkeit entsteht Kommunikationsfähigkeit, und daraus dann auch die Fähigkeit, das Evangelium so zu kommunizieren, dass es nicht nur aufgedrängt, sondern auch verstanden wird.

Wie sieht eine solche Differenzierung aus? Darüber könnten sicherlich Bände geschrieben werden. Ich schlage zunächst einmal eine ganz grobe Entflechtung von verschiedenen Ebenen vor, die in der Diskussion über interreligiöse Begegnung oft miteinander vermischt werden:

  1. Die Ebene der Wahrheitssuche

Natürlich stellt sich in der interreligiösen Begegnung früher oder später auch die Wahrheitsfrage. Ganz einfach gestellt lautet sie: „Welcher Glaube ist wahr?“. Differenzierter könnte sie aber auch so lauten: „Was an meinem Glauben ist wahr und was unwahr? Was an deinem Glauben ist wahr und was ist unwahr?“ Denn schließlich kann kein Mensch, auch kein Christ, für sich beanspruchen, nur Wahres zu glauben. Zu oft entdecken wir, wenn wir zu uns selbst ehrlich sind, dass wir auch als Christen falsche Bilder von Gott haben können. Dass wir auch nach einem langen Leben als Christ oft noch nicht wirklich verstanden haben, was Gnade ist. Dass wir manche Bibelstellen falsch verstehen. Und so weiter. Es gibt bei uns, neben allem Wahren, auch viel Falsches. Möglicherweise gibt es bei dem anderen ja, neben viel Falschem, auch einiges, was wahr ist? Zum Beispiel glauben Juden und Muslime wie wir daran, dass es nur einen Gott gibt. Wird dieser Glaube falsch dadurch, dass es Juden und Muslime sind, die das glauben? Vermutlich nicht.

Eine differenzierte Frage nach der Wahrheit wird den Glauben des anderen also nicht pauschal als „wahr“ oder „falsch“ bezeichnen, sondern ins Gespräch kommen darüber, was am Glauben des anderen wahr und was falsch sein könnte. Und sie wird sich diese Frage ebenso selbst stellen lassen.

Viele Vertreter eines interreligiösen Dialogs würden in der Wahrheitsfrage gerne noch einen Schritt weiter gehen: Sie würden auf die Begriffe „wahr“ und „falsch“ gerne ganz verzichten. Das wohl berühmteste Beispiel dafür ist die sogenannte „Ringparabel“ aus Lessings „Nathan der Weise“: Hier lässt ein Vater für seine drei Söhne identische Duplikate seines Siegelrings anfertigen, weil er sich nicht entscheiden kann, wen von seinen Söhnen er am meisten liebt. Lessings Deutung dieser Parabel, aus dem Munde eines weisen Richters, lautet: „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren“. Jedoch: Wer genug daran glaube, den echten zu besitzen, der könne dadurch dennoch ein guter Mensch werden.

Die „Ringparabel“ ist für Generationen von Menschen ein Sinnbild für einen respektvollen und toleranten Umgang der Religionen geworden. Der Verzicht auf die Wahrheitsfrage, so meinte man, müsse doch zu einem besseren Miteinander der Religionen führen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dies aber als Trugschluss: Denn Lessings Parabel verzichtet ja gerade nicht auf die Wahrheitsfrage, sondern möchte sie endgültig beantworten. Die drei großen Religionen, so muss man schließen, sind alle drei unwahr. Wirklich wahr dagegen ist nur die Ansicht Lessings, dass nicht die Wahrheit der Religion zählt, sondern nur die Frage, wie fest man daran glaubt und ob man durch diesen Glauben ein besserer Mensch wird. Hier werden die Religionen also weder mit Toleranz noch mit Respekt behandelt, sondern schlichtweg aus höherer Perspektive für falsch erklärt. Respektvoll ist daran allenfalls die Tatsache, dass Lessing allen drei Religionen mit gleicher Respektlosigkeit begegnet.

Ebenso verhält es sich mit einer neueren Parabel, die im interreligiösen Gespräch sehr beliebt geworden ist: Die Parabel von den blinden Bettlern, die sich von verschiedenen Seiten einem Elefanten nähern und dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was ein Elefant sei: Wie ein Baum (die Füße), wie eine Schlange (der Rüssel), wie ein Teppich (die Ohren) oder wie ein Ast (die Zähne). Das Fazit: keiner von ihnen hat wirklich recht, aber alle haben einen Teil der Wahrheit erkannt. Nur zusammen ergibt es aber ein vollständiges Bild. Bei näherem Hinsehen verzichtet aber auch dieses Bild nicht auf die Wahrheitsfrage. Sondern es bestreitet die Wahrheit der monotheistischen Religionen und bestätigt die Wahrheit der fernöstlichen Religionen. Während nämlich im Monotheismus die Wahrheit des eigenen Gottes der Unwahrheit anderer Götter entgegensteht, ist es in den östlichen Religionen gerade die Vielfalt der unterschiedlichen Gotteserfahrungen und Inkarnationen, die nur in ihrer Gesamtheit das Wesen des Göttlichen widerspiegeln.

Man sitzt also letztlich einer Täuschung auf, wenn man versucht, die Wahrheitsfrage aus dem interreligiösen Gespräch auszuklammern. Wer auf die Wahrheitsfrage verzichten will, der setzt damit, gewollt oder ungewollt, einen neuen absoluten Wahrheitsanspruch. Nur mit dem Unterschied, dass er sich weigert, diesen zum Thema des Gespräch zu machen. Dennoch ist auch die andere Einsicht wichtig: Es kann in der interreligiösen Begegnung nicht immer nur und ausschließlich um die Wahrheitsfrage gehen. Denn auch andere Ebenen der Begegnung sind wichtig und notwendig:

  1. Die Ebene der gelebten Glaubenspraxis

Bevor wir darüber reden können, welche Aspekte des eigenen und des anderen Glaubens wahr oder falsch sind, ist es vielmehr erst einmal notwendig, den anderen Glauben wirklich kennenzulernen. Allzu oft haben wir unser Wissen über den anderen nur aus Lehrbüchern. Zudem aus Lehrbüchern, die von Christen geschrieben sind. Das mag hilfreich sein, ist aber oft nicht ausreichend. Wir brauchen daher die Ebene der persönlichen Begegnung, um den Glauben und das Leben des anderen richtig kennenzulernen: Was glaubst du eigentlich? Und wie lebst du es? Welche Aspekte deiner Religion sind dir wichtig, welche eher unwichtig? Wie feierst du deine Feste, wie gestaltest du deinen Alltag, dein Familienleben, deinen Beruf? Wie siehst du deine Rolle in der Gesellschaft? Um hier Antworten zu bekommen, muss die Wahrheitsfrage zunächst einmal zurückgestellt werden. Es geht darum, den anderen besser kennen und verstehen zu lernen. Und es geht darum, mögliche Klischees, Missverständnisse und Vorurteile zu überwinden. Möglicherweise auch, um dann besser, ehrlicher und treffender über die Wahrheitsfrage ins Gespräch zu kommen.

Ich habe oft erlebt, dass Christen gar nicht in der Lage sind, solche Fragen zu stellen. Sie möchten immer gleich vom eigenen Glauben erzählen oder den Anderen von der Unwahrheit seines Glaubens überzeugen. Sie haben nicht gelernt, erst einmal hinzuhören. Interessierte Fragen zu stellen und sich wirklich zu bemühen, den anderen besser kennenzulernen und zu verstehen. Jesus war in diesem Punkt anders. Er hat seine Gespräche oft mit Fragen begonnen und seinem Gegenüber die Möglichkeit gegeben, von sich zu erzählen. Und das ist bei ihm sicher nicht nur „Missionsstrategie“, sondern echte Liebe zum Menschen und ein genuines Interesse an ihm.

Auf dieser, persönlichen Ebene, entdecken wir dann auch, dass es „den Moslem“ und „den Juden“ ebenso wenig gibt wie „den Christen“. Sondern auch die Anderen sind untereinander so verschieden wie wir Christen. Wir beginnen, im anderen nicht nur das „Fallbeispiel“ aus dem Lehrbuch zu sehen, sondern einen einzigartigen Menschen, mit seinem eigenen Glauben und seinem Leben. Und auch das ist ein Geheimnis interreligiöser und interkultureller Begegnung: Im anderen nicht nur einen Prototypen seiner Religion oder Kultur zu sehen, sondern zunächst einmal den Menschen selbst. Aber diesen dann auch in seiner religiösen und kulturellen Eigenart und Verschiedenheit. Einüben kann man solche Begegnungen natürlich am besten im Alltagsleben, etwa da, wo man sich bei Nachbarn, Freunden oder Kollegen einladen kann, um ihr Leben kennenzulernen. An vielen Orten gibt es aber auch interreligiöse Gesprächskreise oder „Runde Tische“, wo man sich persönlich begegnen und Dialog einüben kann.

  1. Die Ebene des gesellschaftlichen Miteinanders

Auch auf einer anderen Ebene ist die interreligiöse Begegnung und Verständigung wichtig, und zwar unabhängig von der Wahrheitsfrage: Dringende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens müssen miteinander besprochen werden, und ihre Lösung kann nicht darauf warten, dass die Wahrheitsfrage vorher geklärt wird. Hierher gehören die Fragen von Religionsfreiheit und Menschenrechten, der Streit um das Kopftuch, die Beschneidung und den Bau von Moscheen. Die Tatsache, dass es in unseren Schulen zwar christlichen, aber keinen islamischen Religionsunterricht gibt und dass im Jahreskalender zwar viele christliche Feiertage gesetzlich geschützt sind, aber keine jüdischen oder islamischen: Alle diese Tatsachen gründen sich ja nicht auf die Wahrheitsfrage, sondern auf staatsrechtliche, historische und sozio-politische Prozesse. Auch die Frage, ob Mitarbeiter eines kirchlichen Kindergartens Christen sein müssen, und ob sie beim Religionswechsel ihren Beruf riskieren, wird durch staatliche Gesetze geregelt, und nicht durch religiöse Überzeugungen der einzelnen Gruppen. Auf dieser Ebene des Dialogs geht es also darum, als gleichberechtigte Staatsbürger unterschiedlicher Religion auf Augenhöhe über Probleme und Lösungen zu sprechen.

Und es geht auch darum, gemeinsam mit Vertretern anderer Religionen nach dem gemeinsamen Besten für Stadt, Land und Welt zu fragen, wie es etwa Organisationen wie das „Projekt Weltethos“ oder auch „Religions for Peace“ versuchen. Hier steht das gemeinsame Handeln im Vordergrund, auch angesichts unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen. Die Frage nach der Wahrheit der einen oder der anderen Religion muss dabei erst einmal zurückgestellt werden. Manche Christen verurteilen solches gemeinsame Bemühen als bloße Zeitverschwendung. Aber es ist immerhin ein biblischer Auftrag, den Nächsten zu lieben, dem Bedürftigen zu dienen und das Beste für unsere Stadt zu suchen. Wo sich Christen aus solchen gemeinsamen gesellschaftlichen Prozessen ganz ausklinken, vernachlässigen sie daher einen wichtigen Aspekt ihres Auftrags.

Die Absolventen unserer Fachschule stehen hier durch ihre doppelte Qualifikation vor einer besonderen Herausforderung, aber auch einer besonderen Verantwortung: Als staatlich geprüfte Erzieher haben sie einen Bildungsauftrag, der sich auf alle Kinder und Jugendlichen bezieht, ganz egal, welcher Religion sie angehören. Als theologisch qualifizierte Gemeindepädagogen haben sie sich verpflichtet, das Evangelium zu verkünden. Beide Aufträge zusammenzubringen, ist in der Praxis oft gar nicht so einfach: Soll man etwa ein muslimisches Kind in der Kindergruppe ganz aktiv in seiner (anderen) religiösen Tradition bestärken, weil dies Persönlichkeitsentwicklung, Familienbindung  und kulturelle Identität fördert? Oder soll man religiöser Prägung und kultureller Identität zumindest da entgegenwirken, da wo sie aus pädagogischer Sicht als schädlich für das Kindeswohl erscheint? Oder soll man sogar aktiv auch den eigenen Glauben als Alternative zum Glauben der Herkunftsfamilie ins Gespräch bringen? Im Kontext eines städtischen Kindergartens werden hier die Antworten sicher anders ausfallen als im Kontext einer kirchlichen Jugendarbeit. Aber im Einzelfall die Grenzen zu finden, die zwischen beiden Bereichen verlaufen, wird nicht immer leicht sein. Hier ist eine hohe Kompetenz in interreligiösen Fragen und eine sehr differenzierte Urteilsfähigkeit vonnöten, und die Ausbildung an unserer Schule muss daher auf diese Fragen aktiv vorbereiten.

  1. Die Ebene von Mission und Konversion

Diese letzte Ebene darf nicht ausgeklammert werden, wenn es um die Begegnung zwischen Religionen geht. Vertreter eines interreligiösen Dialogs sprechen zwar immer wieder davon, dass man jeden Versuch der Mission vermeiden müsse und dass Konversion nicht das Ziel eines Dialogs sein darf. Es fällt aber letztlich schwer, diese Forderung zu begründen. Fragt man nach, was gemeint ist, dann ist es oft das, was ich in den vorangehenden Absätzen beschrieben habe: Nicht immer ist es hilfreich, wenn jemand mich von seinem Glauben überzeugen möchte, ohne mich überhaupt wirklich zu kennen oder mir zuerst einmal zugehört zu haben. Solche Menschen gibt es, auf christlicher wie auf anderer Seite. Auch ist es nicht hilfreich, gemeinsame gesellschaftliche Konflikte nur dadurch lösen zu wollen, dass man den anderen zur „richtigen“ Religion bekehrt. Für einen gelingenden Dialog ist es nötig, auch Raum für solche Ebenen zu schaffen, auf denen der andere erst einmal in seiner Anders­artigkeit akzeptiert und ernstgenommen wird. Wenn daraus aber ein Verbot wird, die eigene Überzeugung zu benennen oder gar zu wechseln, dann kehrt der Zwang zurück in den Dialog.

Ich erinnere mich an eine hochkarätig besetzte christlich-jüdische Begegnung an der Al-Azhar Universität in Kairo, an der ich einmal teilnehmen durfte. Der Großscheich der Universität referierte über das Thema der Religionsfreiheit in Ägypten und zitierte wiederholt den Satz „in der Religion darf es keinen Zwang geben“ (Koran, Sure 256). Niemand könne also gegen seinen Willen zum Übertritt in den Islam gezwungen werden. Als ein Vertreter der ägyptischen Christen daraufhin fragte, warum dennoch jeder bestraft werde, der vom Islam zum Christentum übertrete, war die Antwort lapidar: „Weil das natürlich ein Verbrechen ist, das geahndet werden muss“.  Im europäischen Kontext wird der Übertritt von einer zur anderen Religion zwar nicht gesetzlich verfolgt, aber doch gesellschaftlich geächtet. Zumindest da, wo er aus innerer Überzeugung geschieht und nicht nur, um z.B. eine Ehe zu ermöglichen. Es scheint hier ein letztes Tabu zu geben, das die Offenheit des Dialogs einschränkt: Man darf zwar seine Meinung sagen, aber man darf sie nicht ändern.

Meines Erachtens ist dies keine hilfreiche Beschränkung für interreligiöse Begegnung. Anstelle von Tabus und Verboten sollten stattdessen kommunikative Fähigkeiten gefördert werden: Die Fähigkeit, zuzuhören. Die Fähigkeit, auf den anderen einzugehen. Die Fähigkeit, Fragen zu stellen und auch Fragen zuzulassen. Solche Fähigkeiten führen dazu, dass statt einseitiger Indoktrinierung echter Dialog passiert. Sie verhindern, dass jemand im anderen nur ein „Missionsobjekt“ sieht und kein echtes Gegenüber. Sie verhindern, dass Zwang anstelle von Freiheit tritt. Vertreter des interreligiösen Dialogs fordern häufig, der Dialog müsse „ergebnisoffen“ geführt werden, und dürfe deshalb nicht zum Ziel haben, den anderen zu überzeugen. Ich würde jedoch sagen, gerade eine solche Einschränkung führt dazu, dass der Dialog nicht mehr „ergebnisoffen“ ist. Wirklich ergebnisoffen ist nur eine Begegnung, in der wirklich alle Möglichkeiten offen bleiben: Auch die, dass der andere mich von seinem Glauben überzeugt. Ich möchte dann die Freiheit haben dürfen, mich neu zu orientieren oder, wie die jüdisch-christliche Tradition es nennt, mich zu „bekehren“.

Lernen im interreligiösen Dialog

Es gibt also viel zu lernen im Miteinander der Religionen. Solches Lernen geschieht auf ganz verschiedenen Ebenen, und jede dieser Ebenen braucht ihre eigene Zeit und ihre Freiheit. Wenn man das Gespräch oder die Begegnung stets nur auf eine dieser Ebenen reduziert, dann findet keine echte Begegnung statt. Wenn man aber alle Ebenen miteinander vermischt, dann kommt es häufig zu unnötigen Konflikten und Missverständnissen. Da jedoch, wo wir uns um eine offene und ehrliche Begegnung zwischen den Religionen bemühen, können wir viel lernen, und zwar auf ganz verschiedene Weise:

 

  • übereinander lernen: Wer bist du und wer bin ich?
  • miteinander lernen: Wie können wir gemeinsam voran kommen?
  • voneinander lernen: Was kann ich von dir lernen und du von mir?

 

Für einen gelingenden Dialog ist es wichtig, dass wir zunächst etwas über einander lernen. Und zwar auf allen vier Ebenen: Ich möchte die Wahrheitsansprüche des anderen verstehen lernen, seinen Glauben, sein Leben, persönlich und gesellschaftlich. Und ich möchte ihm die Gelegenheit geben, meinen Glauben und mein Leben kennenzulernen.

Lernen im Dialog bedeutet aber nicht nur, etwas über einander zu lernen. Sondern wir lernen auch miteinander. Das beginnt ganz banal schon dort, wo Kinder aus unterschiedlichen Religionen zusammen den Kindergarten besuchen. Hier lernen sie nicht nur etwas über einander, sondern sie lernen, miteinander zu spielen, zu forschen, zu entdecken und zu gestalten. Es gibt so viele Bereiche, in denen man gemeinsam wachsen, lernen und handeln kann, obwohl man einen unterschiedlichen Glauben hat. Und Kinder sollten hier früh lernen, auch über Religions­grenzen hinweg zusammen zu lernen und zu handeln. Was hier früh eingeübt wird, das kann später auf ganz anderen Ebenen, in Politik, Wirtschaft und Berufsalltag, dazu führen, dass man gemeinsam „das Beste der Stadt“ suchen kann, auch wenn man im Glauben getrennt ist.

Und zuletzt können und sollten wir auch von einander lernen: Nicht alles am eigenen Glauben ist perfekt, und nicht alles am Glauben des anderen ist falsch. Und so kann der Dialog auch dazu führen, dass ich von meinem Gegenüber etwas lerne, was mir bisher fehlt. Weiter oben habe ich von der Erfahrung vieler Christen gesprochen, dass Menschen anderen Glaubens oft viel bessere Menschen sind als die „Glaubensgeschwister“, die man kennt. Wie kommt das? Vielleicht haben wir als Christen manchmal einen zu großen Schwerpunkt auf dem „richtigen Glauben“ und vernachlässigen daher das „richtige Leben“? Vielleicht haben wir allzu lange aus Angst vor Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit auf „gute Werke“ verzichtet oder können hier wieder etwas von den Anderen lernen, bei denen „gute Werke“ nie verboten waren? In meiner Zeit in Israel hat mich oft der Gebetseifer meiner muslimischen Nachbarn beeindruckt, die schon früh am Morgen in Massen auf den Beinen waren, um sich zum Gebet zu versammeln. Wäre es so falsch, wenn wir Christen uns daran ein Beispiel nähmen?

Und hoffentlich gibt es dann umgekehrt auch manches, was meine Gesprächspartner von mir lernen können. Am meisten natürlich wünsche ich mir, dass sie von mir lernen, wer Jesus Christus ist und warum er mir so viel bedeutet. Oder besser noch: Wenn sie es nicht nur von mir lernen, sondern von dem, der uns einlädt, von ihm zu lernen:

 

„Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid,

denn ich will euch erquicken.

Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir.

Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“

(Mt 11,28-29)

 

Lernen im Interreligiösen Dialog
In: Meiss, Klaus / Weißenborn, Thomas: Interkulturelles Zusammenleben. MBS
Jahrbuch 2014
Marburg: Francke Verlag 2014, S. 49-60
01.03.2014

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